Kapitel 38 - Martha

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Es ist also passiert. Titus hat mich geküsst. Es ist das eingetreten, was ich versucht habe, zu vermeiden. Die ganze Zeit über war ich bestrebt, es mir so einfach wie möglich zu machen, ihn eines Tages loslassen zu können. Denn eines Tages wird er König werden. Eines Tages wird er sich eine Frau suchen, die seinem Stand entspricht. Eines Tages werde ich mit gebrochenem Herzen enden. Und doch habe ich nie gedacht, dass dieser Tag so bald kommen würde. Wenn man dem richterlichen Protokoll Glauben schenkt, das Adalmar mir auf meine Bitte hin vorgelegt hat, ist jeder Zweifel gegen Titus ausgeräumt worden. Titus ist offiziell als Kronprinz anerkannt worden und das ganze Volk brennt darauf, dass er es nicht lange bleibt. Am allermeisten wohl der Prinzregent. Und ich? Ich bin so dumm, mich gerade an diesem Tag, an dem sich die Zeit bis zur Krönung im Kalender abzählen lässt, in seine Arme zu werfen und mich von ihm küssen zu lassen. Ein Kuss, den ich nie wieder werde vergessen können. Der für immer Erinnerung, aber niemals Wirklichkeit werden wird.

Ich weiß, dass Titus mich schätzt, vielleicht sogar liebt. Aber ich weiß auch, dass das nichts mehr gelten wird, sobald er König ist und gewissen Ansprüchen genügen muss. Sobald all die jungen Damen wieder zur Verfügung stehen, an die er all die Jahre nicht einmal denken konnte. Ich war vielleicht die erste, aber ich werde sicher nicht die einzige bleiben. Und ich kann auch nicht zulassen, dass er sich aus Dankbarkeit heraus an mich bindet.

Ich könnte noch Stunden darüber nachsinnen, was ich nun tun soll und ob mein albernes Herz sich wirklich nicht das kleinste Bisschen Hoffnung erlauben kann, aber ich habe anderes zu erledigen. Auch wenn meine Schwestern sich inzwischen bestimmt einiges zusammengereimt haben, gibt es noch viele offene Dinge aufzuklären. Sowohl mit Esther als auch mit Henna. Eigentlich ist es mir wichtig, zuerst mit meiner ältesten Schwester reinen Tisch zu machen, doch da ich sie in ihren Gemächern nicht antreffe, schaue ich als nächstes bei Henna vorbei und da sind sie beide.

Als ich klopfe, öffnet Henna mir persönlich. Den ganzen Prozess über habe ich keine von beiden zu Gesicht bekommen, es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass wir uns wiedersehen und es ist ungewohnt. Unausgesprochene Worte hängen im Raum, Henna schafft es kaum, mich anzuschauen. Und ich kann es ihr nicht verübeln. Es ist auch das erste Mal seit meiner Verlobung, dass wir uns gegenüberstehen.

Ich räuspere mich. „Vielleicht darf ich reinkommen?" Sie nickt und tritt beiseite. Esther lümmelt in einem Sessel, aber es wirkt nicht gleichgültig, sondern kraftlos. Sie ist dünn und blass geworden und das sonst so entschlossene Funkeln in ihren Augen ist erloschen. Henna bietet mir einen Platz und einen Tee an und ich nehme beides dankend entgegen. Sobald sich die Stille wieder zwischen uns auszubreiten droht, beginne ich damit, das anzusprechen, wozu ich hergekommen bin.

„Eigentlich wollte ich euch beide allein sprechen. Denn ich weiß, dass sehr verschiedene Dinge zwischen uns stehen." Esther setzt sich auf. „Was immer du mir sagen willst, kannst du vor Henna sagen. Bald werden es sowieso alle wissen, habe ich nicht recht?" Ich seufze und bestätige ihre Vermutung dann mit einem Nicken.

„Das Gerichtsverfahren ist heute zu einem Ende gekommen. Ich kann verstehen, dass ihr nicht dabei sein wolltet, ich schätze es sogar. Die ganzen Menschen haben sich benommen, als wäre es ein Spektakel, genau wie bei der Urteilsverkündung im Amphitheater. Alles, was diese Prozesse angeht, wird in den kommenden Tagen an die Öffentlichkeit gelangen. Doch ihr solltet den Ausgang von mir hören: Titus ist als Kronprinz anerkannt worden und wird nächste Woche zum König gekrönt. Ihm wurde das beglaubigt, wovon ich die gesamte Zeit überzeugt gewesen bin. Seine Unschuld."

Henna schüttelt den Kopf. „Aber ich verstehe das nicht. Esther ist doch sein Opfer geworden. Ich bin froh darüber, dass man ihn nicht umgebracht hat, weil das einfach ganz abscheulich ist, aber – ohne dich angreifen zu wollen, Marlene – ich habe nicht begreifen können, warum du so für einen neuen Prozess, für ihn, gekämpft hast. Du hast sogar deine Verlobung zu Moritz aufs Spiel gesetzt und ihm wehgetan. Dabei ist Titus doch..." „Er ist unschuldig", lässt sich Esther leise vernehmen und Henna verstummt. Wie immer scheint sie die Letzte zu sein, die etwas Wichtiges erfährt. Ich beobachte meine älteste Schwester. Mit drei Worten hat sie sich und anderen gegenüber ihre Schuld eingestanden. Doch statt niedergedrückt zu wirken, sieht sie befreit aus. „Er ist immer unschuldig gewesen", fährt sie fort. „Ich weiß, was in den ganzen Verhandlungen vonstattengegangen ist, denn ich habe mich erkundigt. Titus hat nie jemandem etwas zuleide getan. Es ist Eventus, der ihm den Thron geneidet hat und diese Verleumdung um ihn gesponnen hat. Und ich bin es, die ihm in die Karten gespielt hat."

Die HofdameWo Geschichten leben. Entdecke jetzt