Kapitel 22 - Titus

1K 80 1
                                    

Es ist dunkel und es ist kalt. Ich laufe in meiner Zelle auf und ab, fünf Schritte in die eine Richtung, fünf in die andere. Ich kann nicht mehr sitzen auf dem harten, rauen Stein. Vor allem aber möchte ich mich nicht wie das Opfer fühlen, das ich bin, wie ein eingesperrter, hoffnungsloser Verdammter. So habe ich mich schon vor ein paar Jahren gefühlt. Ich kauerte in einer Ecke, hoffnungslos und dann wieder hoffnungsvoll, habe geflucht und dann wieder gebetet. Es ging mir furchtbar. Und das, obwohl ich damals noch nicht wusste, wozu Eventus alles fähig ist. Jetzt weiß ich es nur zu gut. Und doch weigert sich der letzte Funken Hoffnung in mir zu erlöschen.

Ich weiß genau, woran es liegt. Es liegt an einem Adelsregister im Besitz einer bemerkenswerten Frau. Zumindest hoffe ich, dass sie es noch besitzt. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass Eventus ihre Räumlichkeiten inzwischen auch auf den Kopf gestellt haben wird. Er wird gründlich gewesen sein, oh ja, daran zweifle ich nicht. Aber solange ich nichts anderes höre, klammere ich mich an den Gedanken, dass sie es gut genug versteckt haben könnte. Vielleicht transportiert sie es auch wieder unter ihrem Kleid. Bei dieser Erinnerung muss ich schmunzeln. Ich kann wirklich nicht behaupten, dass es ihr an Einfallsreichtum mangelt. Es sind solche Situationen, in denen sie so unkonventionell handelt und mich mit ihren Worten neckt, die diese Frau so authentisch machen. Die einer Person Leben einhauchen und sie zu einem individuellen Charakter formen. Anders als all die Höflinge, die sich immerzu nach dem aktuellen Regenten, den aktuellen Sitten und der aktuellen Mode richten. Ich hoffe, dass sie schlau genug sein wird, mit dem Register an die Richter heranzutreten. Vielleicht hat Eventus einen neuerlichen Prozess auch unterbunden und der Beweis hilft mir gar nichts mehr. Das wäre ihm zuzutrauen. Aber wenn es irgendwo einen Weg gibt, der noch alles zum Guten wenden wird, dann findet sie ihn. Dann findet Marlene ihn.

Ich lehne meine Stirn gegen das kühle Zellengitter. Was denke ich hier eigentlich? Ich bin meiner Freiheit beraubt, friere und dennoch hänge ich einer Schwärmerei für eine Dame nach, die ich kaum kenne? Vermutlich liegt es daran, dass ich langsam dehydriere. Anders kann ich mir meine Euphorie nicht erklären. Ich habe noch nie auch nur Interesse für eine Frau gehabt, sehr zum Leidwesen meiner Eltern. Sie hätten mir schon viel früher eine Liebschaft gewünscht. Mit Theodora kam ich gut zurecht, aber sie war mehr wie eine vertraute Freundin und Schwester, mit der man sich einen Abend über gut unterhalten konnte. Bei Marlene ist das irgendwie anders. Sie ist die erste Frau, die mich nervös macht, die ich nicht einschätzen kann, die dafür sorgt, dass ich peinlich zu Boden blicke und mich wie ein Idiot fühle. Sie ist die erste, die mich überrascht hat. Es verunsichert mich immer noch, wie meine Meinung über sie sich so oft und so schnell wandeln konnte.

Am Anfang habe ich sie gehasst. Mehr als ihre Schwestern, mehr als alle andern bei Hof. Der Gedanke, sie hätte meinen Onkel manipuliert, hat mich in blinde Wut versetzt. Erst im Nachhinein kann ich begreifen, dass in diesem Moment, in dem sie seine Tischdame wurde, wieder die gute Menschenkenntnis Korbinians gesiegt hat.

Als nächstes hat sie mich provoziert. Das hat mir ein Ventil für meine schlechten Empfindungen gegeben und mir zugegebenermaßen Abwechslung und Faszination beschert. Ich war erst misstrauisch, dann verzweifelt, dann bereit, zu vertrauen und schließlich überwältigt von ihrem Gerechtigkeitssinn und Einfallsreichtum. Und jetzt – ich gestehe es mir ein, obwohl es mir überaus schwerfällt – bin ich sehr besorgt um sie. Und über diese irrationale, mir unbekannte Sorge einer Frau wegen zerbreche ich mir die Gedanken.

Am Ende des Ganges wird die massive Tür zum Verlies mit einem Quietschen geöffnet und fällt anschließend geräuschvoll ins Schloss. Ich sehe den winzigen, flackernden Lichtpunkt einer Fackel und höre selbstsichere Schritte, deren Echo vom Gewölbe widerhallt. Ich versteife mich. Ich habe jahrelange Übung darin, die Gangart einem Menschen zuzuordnen. Eventus.

Die HofdameWo Geschichten leben. Entdecke jetzt