Kapitel 12 - Martha

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Nach all diesen Entdeckungen würde ich mich am liebsten in die Ruhe meiner viel zu großen Räumlichkeiten zurückziehen. Doch dazu bleibt keine Zeit. Ich brauche erst einmal eine Weile, ehe ich in diesem Irrgarten an Gängen und Treppen den Weg zu meinem Zimmer gefunden habe. Bettina erwartet mich bereits besorgt und ungeduldig und beginnt sogleich damit, mich in eine edle cremefarbene Robe zu stecken und passend zu frisieren. Meine Zofe redet dabei in einem fort auf mich ein und ich muss mehr als einmal zugeben, dass ich ihr nicht zugehört habe. Es gibt so viele Fragen, die mich beschäftigen. Die ganz großen Rätsel sind natürlich Eventus Beweggründe zur Vertuschung der Beweise. Denn nachdem Adalmar fallen ließ, dass er persönlich das Adelsregister entwendet hat, hat die ganze Geschichte noch einmal eine neue Dimension bekommen. Würde er einfach nur passiv dafür sorgen, dass niemand auf Hinweise stößt, so wäre das schon brisant genug. Doch seine aktive Rolle, die Entwendung von Schriftstücken, gefällt mir noch viel weniger. Ich habe ihn unterschätzt, so viel steht fest. Getraut habe ich ihm nicht, aber sein perfektes Äußeres und seine glatten Umgangsformen haben mehr vor mir verborgen, als ich zugeben möchte. Eine weitere Unklarheit ergibt sich für mich mit dem Verhalten von Korbinian. Seine Familie ist ihm zweifellos wichtig, doch warum ist er genau aus diesem Grund nicht dahinter gestiegen, was womöglich gespielt wird? Ich kann nur mutmaßen. Vielleicht hat die Trauer über seinen Bruder und seinen Neffen ihm ein wenig die Sicht getrübt. Vielleicht sah er sich schon mit seiner Regentschaft überfordert, mit der er als Dritter der Thronfolge nicht gerechnet hat und es blieben einfach keine Kapazitäten für genauere Nachforschungen. Vielleicht – und das halte ich für ziemlich wahrscheinlich – ist er einfach ein Mensch, der nicht sehen kann, wie Familienmitglieder gegeneinander arbeiten. Eventus unterstützt diese Unrechtmäßigkeit und spielt nach außen hin den vom Schicksal gebeutelten Bruder, der versucht die Pulverfässer am Explodieren zu hindern. Das ist zumindest sein Alibi für die Spionage, die er betreibt.

Eine weitere Frage, die ich mir stelle, ist die, warum Adalmar sein umfassendes Wissen, alles was er mir soeben mitgeteilt hat, nicht schon längst an Titus weitergegeben hat. Doch diese Frage beantworte ich mir relativ schnell selber. Schon seine Erscheinung zeugt von Rastlosigkeit und Hoffnungslosigkeit und der Bibliothekar hat erwähnt, dass der Kronprinz blind geworden ist für alles, was ihm helfen könnte. Titus hat nach zweieinhalb Jahren nicht mehr die Nerven und die Besonnenheit, Hinweisen nachzugehen und sie zu bündeln. Es bestünde die Gefahr, dass er jeden kleinen Beweis vorbringen würde. Vor Gericht wäre ein kleiner Hinweis kaum ausreichend, aber Eventus würde zweifellos dagegen vorgehen.

Bettina gibt sich irgendwann damit zufrieden, dass ich meinen Gedanken nachhänge. Schweigend putzt sie mich heraus und verliert keinen Kommentar darüber, dass ich mich weigere, vor ihren Augen meine Handschuhe zu wechseln. Maurice kommt mich abholen und in mir reift die Gewissheit, dass ich vor einer überaus schweren Herausforderung stehe: Ich muss dafür sorgen, dass Eventus mir nicht anmerkt, was ich weiß.

***

Eine kleine Traube Adliger hat sich in der Galerie der Damen versammelt und gruppiert sich, kaum dass ich diesen prunkvollen Gang betrete, um das verhangene Gemälde. Die meisten von ihnen kenne ich nicht, obwohl Henna sie mir heute Nachmittag mit Sicherheit alle in den Adelsregistern gezeigt hat. Es kostet mich einige Überwindung, zu der Gruppe hinzuzutreten. Das ist einfach nicht meine Welt. Eventus hat mich bereits entdeckt. Lächelnd kommt er auf mich zu und bietet mir seinen Arm an, als er bei mir ist. Ich versuche, nicht ganz so verkrampft zu wirken und hake mich unter. Es ist nur ein weiteres Spiel, das ich spiele. Die Analphabetin war die erste Lüge. Die Nichtsahnende ist die zweite.

„Ich hoffe sehr, Sie haben Ihren Nachmittag genossen, Fräulein Marlene", meint er gut gelaunt. Ich lächele ein falsches Lächeln. „Eher nicht, Hoheit. Henrietta hielt es für eine vortreffliche Idee, mich an die Gesichter des Hochadels zu gewöhnen und wälzte mit mir die Adelsregister." Er lacht amüsiert, doch es ist ein Lachen, das nicht seine Augen erreicht. Es ist das Wort Adelsregister, das ihn in Alarmbereitschaft versetzt. „Das ist allerdings betrüblich", meint er höflich und fragt etwas zu interessiert hinterher: „Hat es denn etwas gebracht?" Ich gebe mich verlegen und beschämt. „Ich muss Sie enttäuschen, Hoheit. Es hat nicht viel bewirkt, außer einen schmerzenden Kopf. Zudem fühle ich mich in Bibliotheken so schrecklich unwohl. Ein Mensch, der nicht lesen kann ist zwischen Büchern genauso fehl am Platz wie ein Verbrecher auf dem königlichen Thron." Das Gesicht des Prinzen hellt sich merklich auf. „Da haben Sie allerdings Recht. Zum Glück sind Sie in dieser Galerie schon viel besser aufgehoben. Heute ist ein großer Tag und morgen wird ein noch größerer. Ich bin glücklich, Sie bei Hofe wissen zu können. Sie erweisen mir doch die Ehre und enthüllen mit mir gemeinsam Ihr Portrait?" Ich schenke ihm ein strahlendes Lächeln, das meine Lachmuskeln verkrampfen lässt, knickse leicht und meine zuckersüß: „Nichts würde mich mehr entzücken, Hoheit."

Eventus führt mich aus der Gruppe heraus zu dem verhangenen Gemälde und bittet um Ruhe. „Liebe Freunde", beginnt er zu sprechen, „wir sind hier, um einer jungen Dame unsere Ehre zu erweisen, die ab morgen ein fester Bestandteil und eine Zierde unseres Hofes sein wird. Als dritte Griffel-Schwester und Hofdame heiße ich heute ganz herzlich willkommen das bezaubernde Fräulein Marlene und möchte nun ihr zu Ehren das Portrait enthüllen, auf dass sie sich in die Generationen an jungen Damen einreihe." Beide ergreifen wir eine Ecke des samtenen Tuches und ziehen es von dem Gemälde. Ein Raunen und Klatschen geht durch die Gruppe und jeder beginnt, sich mit seinem Nachbarn auszutauschen. Schon etwas Spannendes, so ein Gemälde, denke ich bei mir, behalte aber mein falsches Lächeln im Gesicht. Auch ich betrachte zum ersten Mal mein vollendetes Bild. Es ist tatsächlich sehr gut geworden und doch spiegelt es nicht wider, wie ich mich selbst sehe. Es ist steif und reglos, meine Gestalt vor einem düsteren Hintergrund.

„Du siehst so schön aus!", meint Henna begeistert und hakt sich bei mir unter. Esther betrachtet kritisch das Portrait und dann mich und sagt nur: „Es lässt dich disziplinierter wirken, als du bist. Dennoch ist es einer Hofdame durchaus angemessen." Ich bedanke mich höflich für die nett gemeinten Komplimente und sehe zu, dass ich aus dem Zentrum der Traube herauskomme. Gemeinsam entfernen wir uns ein bisschen von meinem Portrait, hin zu denen von Henna und Esther, da nun alle anderen beschlossen haben, sich mein Bild genauer anzusehen. Ich finde es einfach nur blödsinnig, ein Gemälde zu betrachten, wenn die Person, von der es gemalt wurde, danebensteht, aber ich verkneife mir einen Kommentar. Henna ist auf ihrem Bild tatsächlich gut getroffen, offenbar war der Künstler so begeistert von ihr, dass er auch ihr Lächeln eingefangen hat und einen helleren Hintergrund gestaltete. Esther jedoch sieht noch steifer aus als ich, wobei ich nicht daran zweifle, dass sie genauso dagesessen hat.

Das Portrait neben Esther zeigt eine junge, sehr hübsche Frau, deren Gesicht mir vage bekannt vorkommt. Auf dem Messingschild, welches darunter angebracht wurde, steht: Theodora von Mühlen.

„Wer ist das?", frage ich mit mäßigem Interesse, einfach um einen Gesprächsfaden zu haben. „Ich meine, sie schon einmal gesehen zu haben." Ich hoffe, dass Esther in ihrem umfassenden Wissen begeistert von meiner Frage sein wird und meinen gelangweilten Ton überhört. Und tatsächlich lässt sie es sich nicht nehmen, mich zu belehren. „Das ist Theodora, was du wüsstest, wenn du bei unseren Lektionen über die bedeutendsten Persönlichkeiten bei Hofe aufmerksam gewesen wärst. Sie hat mich vor acht Jahren an den Hof geholt. Als sie ging vor drei Jahren wurde Henrietta ihre Nachfolgerin. Sie ist ein sehr prominentes Beispiel für die perfekte Dame, ihr Ruf hat dem calischen Hof viel Ehre gebracht und sie hat sich weit über ihre Erwartungen vermählt." Henna nickt. „Ja, das habe selbst ich noch mitbekommen. Die Verbindung zwischen ihr und Alfons Fürst von Kroesus wurde über alle Maßen gelobt." Ich horche auf. „Fürst von Kroesus?" Den Namen kenne ich doch! Esther räuspert sich, angestachelt durch mein, nun nicht mehr geheucheltes Interesse. „Die Familie von Kroesus war nie sehr verbunden mit dem Königshaus und ist auch heute noch relativ zurückgezogen vom höfischen Geschehen. Erst durch Theodora als neue Fürstin wurde eine engere Bindung geknüpft, alte Streitigkeiten konnten beigelegt werden. Ihr Einfluss hat bei allen nur das Beste bewirkt. Sie hat sehr viel erreicht. Nur der Aufstieg von einer Hofdame zur Königin wäre brisanter als ihrer."

Ich speichere die Informationen in meinem Gedächtnis ab. Wie kommt es, dass ich bisher nicht einmal wusste, auf welche Seite ich mich stellen soll und nun vor lauter Hinweisen nicht mehr den Kopf frei bekomme? Kroesus war das fehlende Register. Doch eine Adelsfamilie, die erst durch die Hochzeit mit einer Hofdame eine Bindung zum Königshaus aufgebaut hat, wäre doch kaum in der Lage, in einem Prozess gegen den Kronprinzen eine Rolle zu spielen. Also gibt es eigentlich nur noch eine plausible Erklärung: Theodora muss in der ganzen Sache eine Rolle spielen. Einer Dame wie ihr, die Vorbildlichkeit und Tugend ausstrahlt und Macht hat, zwei sich gleichgültige Familien aneinander zu binden, ist das durchaus zuzutrauen.


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