Liebe Ana, Wie alles begann

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Liebe Ana,
Ich weiß mittlerweile gar nicht mehr, wie sich ein Leben ohne dich anfühlt.
Ich weiß nicht mehr wie es ist, sich in seinem Körper wohl zu fühlen.
Ich weiß auch nicht mehr wie es sich anfühlt, wenn man absolut satt und zufrieden ist. Ein voller Bauch, ein gefüllter Magen mit Essen, nicht mit einem Liter Wasser.
Ich weiß nicht mehr wie es ist, sich keine Gedanken um Essen, Kalorien und Sport zu machen. Wie viel habe ich gegessen? Habe ich zu viel gegessen? Ja, es war zu viel. Wie kann ich das am schnellsten wieder verbrennen?
Ich weiß auch gar nicht mehr, wie das alles begann, ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich eines Tages nur in Unterwäsche vor dem Spiegel stand und zu mir sagte:

„Sahra, dein Bauch ist eindeutig zu gewölbt. Wenn du was gegessen hast sieht das fast so aus, als seist du im zweiten oder dritten Monat schwanger. Auch deine Beine sind zu dick, guck sie dir nur an! Beim Gehen reiben deine Oberschenkel aneinander und das tut nach einiger Zeit sogar echt weh. Und was ist mit deinen Armen? Du kannst dein Handgelenk nur gerade so mit Zeigefinger und Daumen umschließen. Du bist echt dicker als nötig."
Mit dieser herabwürdigenden Aussage schloss Sahra ihren Monolog vor dem Badezimmerspiegel ab. Sie betrachtete sich mit finsterem Blick und drehte sich zur Seite. Von dieser Perspektive sah sie sogar noch dicker aus. Ihr Bauch wölbte sich sehr stark hervor und schien optisch gesehen sogar einen größeren Umfang zu haben als ihre Oberweite. Das sah doch nicht schön aus! Sie schaute an sich herab. Ihr Bauch verdeckte ihr die Sicht nach unten, sodass sie gerade einmal ihre Zehen erkennen konnte. Probehalber zog sie den Bauch ein. Jetzt konnte sie ihre Füße zwar sehen, doch sobald sie sich wieder entspannte wölbte ihr Bauch sich wieder in ihr Blickfeld.
Sie stellte ihren rechten Fuß einen halben Meter nach vorne und musterte ihr Bein. Der Oberschenkel sah aus wie eine gigantische Presswurst und wenn sie das Bein hin und her bewegte wackelte das Fleisch. Sie rümpfte die Nase. Ihr anderes Bein sah genauso aus, dick und wabbelig. Mit beiden Händen versuchte sie ihren Oberschenkel zu umschließen. Es klappte tatsächlich, aber auch nur ganz knapp, oberhalb des Knies. Wenige Zentimeter weiter oben war es unmöglich für sie. Sie stellte sich wieder frontal zum Spiegel hin.
„Nein", dachte sie, „daran muss ich etwas ändern. So wie ich jetzt aussehe finde ich mich definitiv zu dick." Einmal kniff sie sich noch in die Seite, auch da war eine Menge Fleisch, dann zog sie ihre abgelegten Klamotten wieder an. Da zeigte sich die Tatsache erneut: Sie war zu dick. Die Jeans zwickte unangenehm und drückte gegen ihren Bauch. Dadurch hatte sie ständig rote Abdrücke auf der Haut, die gar nicht schön aussahen und beim Berühren sogar leicht wehtaten.

Fertig angezogen ging sie zurück in ihr Zimmer und fläzte sich auf die Couch. Sie überlegte. Sollte sie vielleicht versuchen Ein oder Zwei Kilo abzunehmen? Nur damit ihr Bauch nicht mehr so rundlich war und ihre Oberschenkel nicht mehr so wackelten. Da wäre doch nichts dabei, oder? Zwei, drei Kilo schadeten doch niemandem. Aus ihrer Hosentasche fummelte sie ihr Handy hervor und öffnete Google. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe, dann tippte sie „schnell und einfach abnehmen" in die Suchleiste ein. Google lud neu und die ersten Artikel wurden ihr angezeigt. Es waren Berichte von einzelnen Menschen, die von ihren Abnehm-Erlebnissen erzählten. Eine Frau zum Beispiel, die in anderthalb Jahren Vierzig Kilogramm abgenommen hatte und ihr Freund, der es nach einem Jahr auf stolze Zwanzig Kilo Minus gebracht hatte. Dann noch mal ein anderer Mann, der sage und schreibe Vierundfünfzig Kilogramm in drei Jahren verloren hatte.
Aber diese Menschen waren zumeist im starken Übergewicht und mussten so viel abnehmen, ihrer Gesundheit zuliebe. Sie selbst war im Normalbereich. Oder?
Hastig suchte sie nach: „Normalgewicht Sechzehn Jahre Mädchen" und direkt als erstes Ergebnis wurde ihr ein BMI-Rechner angezeigt. BMI? Was war denn das? Sie öffnete die Seite und laß den dort stehenden Text.
Anscheinend war BMI die Abkürzung für „Body-Mass-Index" und bezeichnete bei Menschen das Verhältnis von Körpergewicht zu Körpergröße. Sie scrollte weiter und fand den Rechner. Er war relativ einfach zu bedienen. Man musste nur sein Alter, Größe und Gewicht eingeben und fertig. Sie dachte nach. Also ihre Größe wusste sie. Als sie das letzte Mal gemessen wurde, was vielleicht Drei oder Vier Monate her war, war sie auf exakt 1,60 Meter gekommen. Aber wie viel wog sie eigentlich? Fünfzig Kilo? Fünfundfünfzig? Sie hatte keine Ahnung. Aber im Bad stand eine Waage! Eilig erhob sie sich wieder von der Couch und ging erneut ins Badezimmer. Die Waage befand sich früher immer im Regal neben der Tür im untersten Fach. Sie bückte sich um nachzugucken und da war sie immer noch! Es hatte sich eine feine Staubschicht auf ihr gebildet, da sie so selten genutzt wurde. Mit einem Stück Toilettenpapier wischte Sahra den Staub ab und stellte die Waage auf den gefliesten Fußboden. Sie drückte den Anschalter und vom Display blinkten ihr die Ziffern Null Komma Null entgegen. Vorsichtig setzte sie erst den rechten, dann den linken Fuß auf die Platte. Nach wenigen Sekunden in denen die Zahl auf dem Display auf und ab sprang stand das Ergebnis fest. 53,8 Kilogramm. Okay, das war zumindest schon einmal in dem Bereich den sie geschätzt hatte. Sie sollte froh sein, dass es nicht mehr war. Aber sie freute sich nicht. Im Gegenteil, irgendwie verschlechterte dieses Ergebnis ihre Laune sogar. Wie konnte man mit fast Vierundfünfzig Kilo so mollig aussehen wie sie? Vielleicht würde sie ohne Klamotten weniger wiegen. Ja, bestimmt! Also trat sie von der Waage herunter und entledigte sich erneut ihrer Kleidung. Diese schmiss sie achtlos auf den Boden und betrat die Platte wieder. Einen Moment später war das neue Ergebnis zu sehen. 53,1 Kilogramm. Gut, das war schon mal weniger. Sie blickte auf und sah sich wieder im Spiegel. Ihr gewölbter Bauch...
Schnell wandte sie den Blick ab. Ja, es war weniger, aber anscheinend doch nicht wenig genug. Sahra zog sich wieder an, stellte die Waage zurück ins Regal und schlurfte missmutig in ihr Zimmer. Wieder auf der Couch angekommen trug sie ihr Gewicht in den BMI-Rechner ein, dann stellte sie noch Alter und Geschlecht ein und drückte anschließend auf „berechnen". Die Seite aktualisierte sich und präsentierte ihr das Resultat. Ihr BMI betrug 20,7. Dies bedeutete „Normalgewicht". Ihr Idealgewicht lag zwischen Sechsundvierzig und Achtundfünfzig Kilogramm und ihr täglicher Grundumsatz betrug 1377 Kilokalorien. Sekunde, was war denn ein Grundumsatz? Sie laß weiter.
„Der Grundumsatz ist die Menge an Kalorien die der Körper am Tag im völligen Ruhezustand verbraucht um alle Körperfunktionen aufrecht zu erhalten".
Okay, jetzt war sie schlauer. Weiter unten fand sie eine Tabelle, welche für die Altersgruppen Acht bis Achtzehn die BMI-Werte anzeigte die besagten ab wann man im Über- oder Untergewicht war. Sahra schaute sich die Reihe für die Sechzehn jährigen Mädchen an. Laut dieser Angabe dort durfte ihr Body-Mass-Index bis zu 17,9 betragen, bevor sie im Untergewicht landete. Aber soweit wollte sie gar nicht. Vielleicht sollte sie erst mal einen von 19 oder 19,5 anstreben. Dann wäre sie doch definitiv dünner, oder? Dann wäre ihr Bauch nicht mehr so gewölbt. Bestimmt.

Einmal Ana, immer Ana.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt