Anas Fünftes Gebot

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Bis zum Abend hin machte sie Sport. Liegestütze, Sit Ups, Kniebeugen, Hampelmänner, Lunges, auf der Stelle laufen und anderes. Als ihre Mutter nach Hause kam ließ sie die lauten Übungen, wie Hampelmänner oder laufen, weg und machte nur noch die leisen. Mit schwachen Armen und zitternden Beinen beendete sie um kurz vor halb Zehn die Aktivität. Ihr war heiß. Ihr war heiß und sie schwitzte mächtig. In ihrem Zimmer herrschte dicke Luft und es roch stark nach Schweiß. Sie öffnete das Fenster um zu lüften. Draußen war es mittlerweile zum Glück kälter geworden und die frische Luft kühlte ihre verschwitzte Haut. Sie klebte. Ihre Sportsachen klebten an ihrem Körper und die Haare im Gesicht. Sie fühlte sich eklig.
Langsam, und vom Sport noch schwer atmend, zog sie die Sportsachen aus und ihre normalen Klamotten wieder an. Duschen! Sie musste jetzt duschen. Noch nie hatte sie sich aufs duschen mehr gefreut, als jetzt. Wackelig ging sie ins Bad und legte sich ein Handtuch zum abtrocknen und eins für die Haare bereit. Dann zog sie sich aus und schmiss die Sachen in den Wäschekorb. Ohne in den Spiegel zu gucken ging sie in die Dusche. Allerdings fiel ihr auf, als sie nach unten guckte, wie aufgebläht ihr Bauch war. Unschön.
Der Wasserstrahl des Duschkopfs traf sie und es war ein wunderbares Gefühl. Jetzt konnte sie den ganzen Schweiß von sich waschen.

Gut Zwanzig Minuten später war sie fertig und trat aus der Duschkabine. Jetzt fühlte sie sich besser. Sie trocknete sich ab und zog sich an. Ihre Haare umwickelte sie mit dem zweiten Handtuch. Nun würde sie noch Zähne putzen und Haare föhnen, dann konnte sie endlich schlafen.

Total kaputt und ausgelaugt ließ sie sich in ihr Bett fallen. Das Fenster blieb geöffnet. Die Luft in ihrem Zimmer war noch immer sehr stickig und warm. Aber allmählich wurde es angenehmer. Mit müden Augen checkte sie noch mal, ob Laila oder Maria sie angeschrieben hatten. Und tatsächlich. Maria hatte ihr um 18:39 Uhr eine Nachricht geschrieben.
„Hast du die Hausaufgaben in Englisch schon gemacht? Ich komm damit überhaupt nicht klar."
Sahra stockte. Hausaufgaben? In Englisch? Scheiße! Die hatte sie noch nicht gemacht! Nach ihrem Fressanfall hatte die gar nicht mehr an Schule gedacht, sondern sich voll und ganz auf den Sport fixiert. Mist. Was konnte sie jetzt tun? Die Hausaufgaben jetzt noch machen würde sie nicht schaffen. Dafür war sie einfach zu ausgelaugt und ihre Konzentration war auch schon über alle Berge. Aber es sollte nicht wieder das passieren, was in Wirtschaft geschehen war.
Doch sie hatte eine Idee. Sie stellte sich einen Wecker auf Fünf Uhr Morgens, eine Stunde, bevor sie normalerweise aufstand. Sie würde morgen einfach früher aufstehen und die Hausaufgaben dann machen. Dann hätte sie zwar weniger Schlaf, aber wenigstens hätte sie die Aufgaben dann. So würde sie es machen. Sicherheitshalber stellte sie sich noch einen zweiten Wecker auf Fünf Minuten nach Fünf, falls sie den ersten überhörte. Dann legte sie das Handy beiseite. Jetzt hoffte sie einfach, so schnell wie möglich einzuschlafen.

Ich öffne die Augen. Der weiße Raum ist mir mittlerweile nur allzu vertraut. Trotzdem bin ich etwas nervös. Ana hatte gesagt, sie würde nur dann wieder auftauchen, wenn sie mit mir etwas besprechen möchte. Zum Beispiel, wenn ich etwas falsch gemacht hatte. Aber auch, wenn sie mir Tipps geben wollte oder mir ein neues Ana Gebot mitteilen möchte.
„Richtig, deswegen bin ich hier", erklingt die Stimme hinter mir. Ich zucke zusammen und drehe mich um. Auch wenn ich es inzwischen gewöhnt sein sollte, dass Ana immer hinter mir steht, hat sie mir dieses Mal doch einen Schrecken eingejagt.
„Hab ich dich erschreckt?", fragt sie und grinst mich an.
„Nein, überhaupt nicht", sage ich sarkastisch und grinse zurück.
Sie kommt auf mich zu und wir umarmen uns. Dabei spüre ich etwas hartes, das meine Wange streift. Verwundert lehne ich mich zurück und schaue ihr ins Gesicht.
„Alles okay Sahra?", fragt Ana und legt den Kopf schief.
„Irgendetwas hat gerade meine Wange gestreift. Ich versuche nur herauszufinden, was es war", sage ich und suche in Anas Gesicht nach der Ursache. Und da fällt mir etwas an ihr auf. Ihre Wangen. Besser gesagt ihre Wangenknochen. Sie stehen irgendwie hervor.
„Äh Ana, seit wann sind deine Wangenknochen so präsent? Das ist mir vorher noch gar nicht aufgefallen." Ich trete einen Schritt zurück und schaue sie schief an. Stimmt, das ist das erste Mal, das ihre Wangen so aussehen. Vorher sahen sie irgendwie... runder aus. Gefüllter. Jetzt werfen ihre Knochen sogar minimale Schatten auf ihre Wangen. Aber es sieht schön aus. Irgendwie ist es wirklich schön. Ana streicht sich mit der Hand über den linken Wangenknochen und lächelt mich an. „Ach die? Ich hab ein wenig an Fett im Gesicht abgenommen und das ist das Resultat daraus. Also mir gefällt es."
Hastig sage ich: „Mir gefällt es auch, es sieht irgendwie wirklich schön aus und es steht dir auch voll. Es ist mir gerade einfach nur aufgefallen."
Langsam hebe ich eine Hand, „Äh, darf ich?", frage ich zögernd. Ana lächelt weiter und nickt. Vorsichtig berühre ich ihre rechte Wange und fahre mit den Zeigefinger den Knochen nach. Es fühlt sich... irgendwie gut an. Anas Haut ist so glatt, so rein. Einfach perfekt. Sie fühlt sich so weich an und der harte Knochen bildet einen starken Kontrast dazu. Es ist einfach schön. Ich lasse von ihr ab und streiche über meine eigenen Wange. Den Knochen fühle ich, aber was ich vor allem fühle sind Pickel, Erhebungen und– „Fett", flüstere ich. Ja, ich fühle Fett. In meinem Gesicht ist Fett. Langsam lasse ich meine Hand sinken und blicke zu Boden. Überall an meinem Körper ist Fett. So viel ekliges Fett. Sogar in meinem Gesicht.
Ana hebt mein Kinn an. „Hey, hey", sagt sie mit sanfter, ruhiger Stimme, „nicht weinen, ja?" Ich schließe kurz dir Augen, hole tief Luft und versuche die sich anbahnenden Tränen zurückzuhalten. Nicht weinen Sahra, nicht weinen.
„Warum bin ich so fett?", frage ich mit erstickter Stimme. Ana seufzt, „Weil du zu lange Zeit, zu viel gegessen hast. Das hat sich alles an dir abgelagert. Überall an deinem Körper hat es sich festgesetzt, weil du immer so viel gegessen und gegessen und gegessen hast."
Ich öffne die Augen wieder. Ana schaut mich an. „Werde ich... werde ich jemals dünn werden?", spreche ich meine größte Sorge aus. Ihre Hand wandert von meinem Kinn zu meiner Schulter.
„Ja Sahra, das wirst du. Aber nicht so ohne weiteres. Es gehört viel dazu dünn zu werden. Du musst meine Tipps und Ratschläge befolgen. Besonders auf meine Gebote musst du achten." Ich nicke. Sie redet weiter: „Wo wir nun bei dem Punkt angelangt wären, deshalb bin ich hier."
Zögerlich frage ich: „Ein neues Ana Gebot?"
„Ein neues Ana Gebot", stimmt sie mir zu. Erwartungsvoll schaue ich sie an, „Und wie heißt es?" Ana erklärt: „Es ist das fünfte Gebot. Es ist dazu da, dass man sich selbst Grenzen setzt. Es hat viel mit Essen zu tun. Es geht um die Kontrolle beim Essen. Das Gebot ist eine Vorschrift zu deiner Nahrungsaufnahme. Damit du nicht mehr so viel isst und damit du nicht mehr im dunkeln tappst, wie nahrhaft dein Essen ist. Also, fünftes Ana Gebot lautet: „Ich soll Kalorien zählen und meine Nahrungszufuhr dementsprechend regulieren", verstehst du?" Ich denke kurz nach. Ich soll Kalorien zählen und meine Nahrungszufuhr dementsprechend regulieren. Kalorien zählen. „Also", beginne ich, „ich soll die Kalorien von dem zählen, was ich esse und... was meinst du mit „dementsprechend regulieren"?"
Sie erklärt weiter: „Das heißt, du setzt dir eine Kaloriengrenze. Sagen wir, deine Grenze liegt bei Eintausend Kilokalorien, dann darfst du am Tag maximal Eintausend Kalorien zu dir nehmen. Also Kilokalorien, nicht nur „Kalorien". Eintausend Kalorien wären umgerechnet ja nur Eine Kilokalorie. Es wird aber umgangssprachlich zu „Kilokalorien" einfach kurz „Kalorien" gesagt, weil es wohl einfacher ist, und trotzdem jeder weiß, was gemeint ist. Ich hoffe, du bist jetzt nicht verwirrt."
„Äh, nein. Nein, alles gut", sage ich. „Also, ich soll Kalorien zählen und darf nicht mehr essen, als meine Kaloriengrenze mir erlaubt?"
Ana zeigt mir einen Daumen nach oben, grinst und sagt: „Jupp, du hast es verstanden."
„Okay", sage ich langsam, „und wo soll meine Kaloriengrenze liegen? Bei Tausend?" Ana überlegt kurz und beginnt mit: „Nein, lieber–", doch plötzlich wird sie von einem kurzen aber lauten Piepen unterbrochen. Das Piepen wiederholt sich immer lauter und in immer kürzeren Abständen. Ich presse mir die Hände auf die Ohren und schreie schon fast zu Ana: „Was zur Hölle ist das?!"
„Dein Wecker!", ruft sie zurück. „Du wolltest früher aufstehen um die Hausaufgaben zu machen, erinnerst du dich?" Ja, ich erinnere mich. Ana beginnt vor meinen Augen zu verschwimmen.
„Warte! Was ist jetzt mit der Kaloriengrenze?!", rufe ich zu der sich immer weiter auflösenden Ana.
„Das bereden wir später! Jetzt musst du erst mal aufwachen!", ruft sie zurück.
Sie und der Raum lösen sich endgültig auf.

Einmal Ana, immer Ana.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt