Wo bist du?

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Als Sahra Am nächsten Morgen wach wurde, hörte sie das klirren von Töpfen aus der Küche schallen. Anscheinend war ihre Mutter gerade dabei etwas zu kochen. Sie blickte auf ihr Handy. 13:07 Uhr. Sie hatte das Frühstück verschlafen. Anscheinend war sie von dem ganzen Sport gestern so kaputt gewesen, dass sie mehr als 14 Stunden traumlos durchgeschlafen hatte. Moment mal! Traumlos? Sie hatte nicht geträumt! Sie hatte Ana nicht gesehen! Warum nicht? Wo war Ana geblieben? War das wirklich die Schuld des Sports gewesen? Oder war Ana vielleicht sauer auf sie? Aber warum? Sie hatte doch getan was sie wollte, hatte Sport gemacht, Wasser getrunken und das Abendessen sausen lassen. Also, wo war Ana? Sie horchte in ihren Kopf hinein. War da vielleicht irgendwo die Stimme? Die Stimme, die Ana gehörte, die Stimme, die ihr sagte, was sie zu tun hatte. Nein. Keine Stimme weit und breit, nur ihre eigene. Warum? Sonst war sie jede Nacht gekommen, hatte sie im Traum besucht, ihr Tipps gegeben, ihr die Gebote nach und nach anvertraut, sie motiviert. Warum war sie jetzt nicht mehr da? Diese Frage bereitete ihr Kopfzerbrechen und die Tatsache, dass Ana nicht da war, weder im Traum noch in ihrem Kopf verunsicherte sie. Ana wollte ihr doch helfen, sie waren doch ein Team, hielten zusammen.

In Gedanken vertieft schlurfte sie ins Bad und ging auf die Toilette. Die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt grübelte sie weiter. Lange verharrte sie so auf der Klobrille, bis es an der Tür klopfte. „Sahra, bist du da drinnen?", fragte ihre Mutter. Sie erwachte aus ihren Gedanken und antwortete mit einem: „Ja!"
„Kommst du, wenn du fertig bist, bitte in die Küche, es gibt Mittagessen."
„Okay, komme gleich." Sie griff nach dem Toiletten Papier, spülte es mit dem Inhalt des Klos in die Kanalisation hinunter und wusch sich die Hände. Als sie in die Küche kam, immer noch im Schlafanzug, sah sie, was es zu essen gab: Fisch. Als Beilage Kartoffelbrei und Blumenkohl. Eigentlich ganz lecker. Sie nahm sich einen Teller und begann sich etwas auf zu tun. Doch mitten drin stoppte sie. Was würde Ana nur hier zu sagen? Ana wäre enttäuscht. „Ist was Maus?", fragte ihre Mutter vom Tisch aus. Sahra erwachte wieder aus ihrer Starre und erwiderte schnell: „Nein, alles gut", und tat sich weiter auf. Sie würde einfach nicht alles von ihrem Teller essen. Sie würde einen Teil einfach liegen lassen und behaupten, sie sei satt. Ja, so würde sie es machen. Und sobald sie wieder in ihrem Zimmer war würde sie Sport machen. Vielleicht kam Ana dann wieder um sie zu mehr Sport zu treiben. Ja, bestimmt. Sie musste es versuchen. Sie wollte Ana wiedersehen. Beziehungsweise Wiederhören. Hauptsache Ana wäre wieder da. Während des Essens trank sie viel Wasser. Zumindest trank sie mehr Wasser, als sie normalerweise trank. Dadurch füllte sich ihr Magen schneller und sie war eher satt.

Nach dem Essen, sie hatte ungefähr Dreiviertel ihres Tellers gegessen, wollte Sahra ihre Zeit wieder mit Sport verbringen. So hatte sie sich ihr Wochenende zwar nicht vorgestellt, aber sie würde sich nicht wieder faul auf die Couch legen, um Netflix zu gucken. Sie würde aktiv bleiben, sie würde den restlichen Sonntag mit Sport verbringen, sie würde Ana stolz machen. Stay strong. Sie wollte gerade beginnen und mit ein paar Aufwärm-Übungen starten, doch schon beim strecken merkte sie: ihre Muskeln protestierten heftig. Sie hatte Muskelkater. Des. Todes! Alles an ihr schmerzte.
Beim Aufstehen hatte sie das gar nicht wahrgenommen, aber jetzt machten sich die Schmerzen deutlich bemerkbar. Obwohl sie sich nur aufwärmen wollte zitterten ihre Beine und als sie sich auf ihren Knien abstützte, fühlten sich ihr Arme wie Toastbrot an.
So konnte sie doch keinen Sport machen! Wenn ihr jede Bewegung wehtat, ihre Beine wie Espenlaub zitterten und ihr die Kraft in den Armen fehlte. Aber was sollte sie dann machen?
Sie griff zum Handy. Diesmal googelte sie nach dem durchschnittlichen Kalorienverbrauch bei beliebiger Tätigkeit. Zum Beispiel Tätigkeit im Haushalt: Fünfzehn Minuten Bügeln waren Siebenunddreißig Kilokalorien, Fünfzehn Minuten Staubsaugen hingegen Sechzig Kilokalorien. Bei Fünfzehn Minuten Fenster putzen käme man auf Fünfzig Kilokalorien und Fünfzehn Minuten Abwaschen wären Dreißig Kilokalorien.
Aber sie brauchte eine Aktivität, die sie in ihrem Zimmer machen konnte und zwar möglichst lange am Stück. Also suchte sie weiter.
Kalorienverbrauch beim Joggen. Uninteressant. Klar, sie könnte in ihrem Zimmer auf der Stelle laufen, aber das würden ihre Beine nicht mitmachen. Also weitersuchen.
Verbrauch beim lesen. Lesen war doch auch nur rumsitzen und fast nichts tun. Das würde sie also auch nicht machen.
Verbrauch beim Spazierengehen. Spazieren... Das klang nicht all zu schlecht. Raus gehen wollte sie zwar nicht, aber theoretisch könnte sie auch in ihrem Zimmer „spazieren" gehen. Das lag zumindest im Bereich des Möglichen. Und es soll sogar bis zu Zweihundert Kilokalorien in der Stunde verbrennen. Natürlich verbraucht jeder Mensch beim Gehen unterschiedlich viel, aber diese Zweihundert war eine Zahl, an der man sich ungefähr orientieren konnte. Sie würde also einfach in ihrem Zimmer hin und her gehen. Dadurch beanspruchte sie ihre Muskeln nicht all zu sehr, aber verbrannte dennoch einige Kalorien. Also legte sie los.
Hin und her und auf und ab. Über ihr Handy ließ sie YouTube laufen, wie immer.

Als sie mit dem Umhergehen angefangen hatte war es ungefähr 14:00 Uhr gewesen. Jetzt war es halb Fünf und ihr Magen meldete sich allmählich wieder. Wasser! Sie musste Wasser trinken. Und danach würde sie Kaugummi kauen.
Eine kurze Pause um die Beine zu entspannen räumte sie sich auch noch ein. Während sie so dasaß und ihre Beine ausstreckte kam ihr etwas in den Sinn: Ihr Handy besaß ja einige Apps. Und eine dieser Apps war die „Health App". Und die Health App zählte ihre gegangenen Schritte und die verbrannten Kalorien mit. Sie packte ihr Handy und suchte die entsprechende App. Da war sie. Auf „Seite" Drei, Reihe Eins, Platz Vier.
Mit übereifrigen Fingern tippte sie auf die App. Sie öffnete sich und sofort wurden ihr Drei Rote Kästen angezeigt.
Ihre gelaufenen Schritte, ihre Zurückgelegte Strecke und ihre Verbrauchten Kalorien. Wie praktisch.
Laut ihrem Handy war sie heute bereits 12667 Schritte gelaufen, was einer Strecke von 8,3 km entsprach und hatte 326 Kilokalorien verbrannt. Was, nur so wenig?
Okay, auch wenn die Angabe von 200 Kilokalorien pro Stunde übertrieben war, so hatte sie dennoch gedacht, nach Zwei Einhalb Stunden umhergehen hätte sie mindestens 400 Kilokalorien verbrannt. Aber dem war offensichtlich nicht so...
Ein wenig deprimiert schaltete Sahra ihr Handy wieder aus. „Es bringt jetzt nichts Trübsal zu blasen. Du musst aufstehen und weiter machen. Kalorien verbrennen ist nun mal nicht einfach. Und du willst Ana doch stolz machen. Ana... wo bist du nur?" Etwas wackelig auf den Beinen ging sie zurück in ihr Zimmer. Dort nahm sie sich einen Kaugummi und fing wieder mit Umhergehen an. Doch der Kaugummi und das Wasser wirkten nicht. Sahra hatte immer mehr Hunger. Vielleicht könnte sie doch etwas essen? Nur eine Kleinigkeit. Damit ihr Magen ihr nicht in den Knien hing. Sollte sie das wirklich tun? Einerseits wollte sie sich die verbrannten Kalorien nicht wieder anfressen, aber andererseits würde sie wohl kaum etwas essen, was Dreihundert Kilokalorien entsprach. Also könnte sie etwas essen. Die Frage war nur, was? Etwas was vom Mittagessen übrig geblieben war? Nein. Ein Brötchen? Nein. Schokolade? Auf keinen Fall! Vielleicht ein Toast? Ein Toast... Ein Toast könnte gehen. Eine Scheibe Toastbrot wird niemals im Leben Dreihundert Kilokalorien haben.
Sie ging in die Küche und holte die Tüte Toastbrot aus einem der Schränke. Sie drehte die Packung und sah sich die Nährstoff Tabelle an. Eine Scheibe Toast hatte Einhundert Kilokalorien. Ja, das könnte sie essen. Dann hätte sie immer noch über Zweihundert Kilokalorien verbrannt und außerdem würde sie ja wieder weiterlaufen und wieder Kalorien verbrennen. Aber trockener Toast war ihr zu fade. Irgendein Aufstrich musste drauf. Nutella auf jeden Fall nicht, das war klar. Aber in ihr wuchs das Verlangen nach etwas Süßem, also fiel Butter auch weg. Marmelade wäre eine Option. Süß, aber nicht so schlimm wie Nutella. Also würde es Marmelade sein.
Sie nahm sich einen Teller, ein Messer, ein Glas und die Packung Toast. Aus dem Kühlschrank noch die Marmelade und den Saft. Dann begann sie zu essen.
Auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, tat es gut etwas zu essen. Es tat so gut, dass sie sich noch eine zweite Scheibe mit Marmelade bestrich. Nachdem sie auch diese gegessen hatte, räumte sie den Tisch wieder ab. Doch als sie wieder in ihrem Zimmer war realisierte sie, was sie gerade getan hatte. Sie hatte gegessen. Sie hatte mehr gegessen, als sie eigentlich geplant hatte! Sie hatte nicht nur einen, sondern ZWEI Toasts gegessen!
Enttäuscht und sauer auf sich selbst fing sie wieder mit ihrem Umhergehen an. Diese zweite Scheibe war echt nicht nötig gewesen. Überhaupt nicht! Und trotzdem hatte sie sie gegessen. Wenn Ana da wäre, hätte sie sie bestimmt gestoppt. Sie hätte ihr gesagt, dass sie mit dem Essen aufhören sollte. Und dann hätte sie sie zurück ins Zimmer geschickt um weiter umherzugehen.
Ohne Ana konnte sie nichts. Sie hatte keine Disziplin, machte keinen richtigen Sport und aß mehr als nötig. Ohne Ana war sie nichts.
Sahra stiegen Tränen in die Augen. Sie wollte nicht, dass Ana sie alleine ließ.  Sie brauchte Ana. Ana war ihre Freundin.

Ja, du warst meine Freundin. Meine beste Freundin. Du hast mir geholfen und warst für mich da. Nur leider war deine „Hilfe" bösartiger Natur gewesen und hat mich nach und nach immer weiter nach unten gezogen. Hat mich Stück für Stück dem Tod näher gebracht.

Einmal Ana, immer Ana.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt