Kein Frühstück und schlechte Witze

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Ein Schauder jagte Sahras Rücken hinunter. Sie öffnete die Augen. Über ihren gesamten Körper zog sich eine Gänsehaut. Sie fror. Sie fror gewaltig. Durch das weiterhin geöffnete Fenster strömten kalte Morgenluft in ihr Zimmer, die unter ihren Schlafanzug drang und ihre Haut immer kälter werden ließ.
Warte mal, normalerweise wurde sie doch von ihrer kuscheligen Decke gewärmt, doch schien sie nicht mehr an Ort und Stelle zu sein. Sie tastete mit Händen und Füßen in ihrem Bett herum, doch ihre Decke fand sie nicht.
Es war noch dunkel draußen, Sahra konnte nur die schemenhaften Umrisse ihrer Möbel sehen. Sie langte zu ihrem Nachttisch herüber und knipste die Lampe an. Verwirrt sah sie sich um. Wo war ihre Decke hin? Auf der Matratze lag sie nicht mehr. Sie rutschte zur Bettkante und lugte auf den Boden. Da lag sie! Zu einem Knäuel verworren lag ihre Decke dort unten, zusammen mit ihrem zweiten Kopfkissen. Sie schlief immer mit zwei Kissen, damit ihr Kopf höher lag. Sie bückte sich und zog die schwere Decke zu sich hoch. Normalerweise hatte sie doch einen sehr ruhigen Schlaf. Wie konnte es dann jetzt passiert sein, dass sie sich anscheinend so sehr herumgewälzt hatte, dass ihre Decke runtergefallene war? Früher, als sie noch jünger war, da war es des Öfteren passiert, dass ihr ihr Bettzeug beim Schlafen aus dem Bett fiel, weil sie zu unruhig war. Es war sogar manchmal vorgekommen, dass sie selbst aus dem Bett gefallen war und dann einfach auf dem Boden weiter schlief. Aber diese Vorfälle lagen Jahre zurück. Sie deckt sich wieder zu und suchte nach ihrem Handy. Doch das war auch nicht mehr an seinem eigentlichen Platz. Für Eine Sekunde hatte sie ein Fall-Gefühl im Magen, wie, als hätte sie beim Treppab gehen eine Stufe verpasst. Wo war ihr Handy? Auch runter gefallen? Kaputt? Geklaut?! Leicht panisch richtete sie sich auf, warf die Decke beiseite und scannte die Matratze mit ihren Augen. Da lag es! Am Fußende ihres Bettes und nur wenige Zentimeter davon entfernt tatsächlich abzustürzen. Schnell holte sie es zu sich und atmete erleichtert auf. Noch mal gut gegangen. Sie überprüfte die Uhrzeit. Es war 6:23 Uhr. Innerlich stöhnte sie. Warum war es verflucht noch mal so früh? Sie war doch gestern... ne, heute so spät ins Bett gegangen. Jetzt hatte sie gerade einmal Sechs Stunden geschlafen. Dabei wollte sie doch verschlafen. Sie ließ sich zurück in ihre Kissen fallen und atmete einmal laut aus. So... was sollte sie jetzt noch die Zeit über machen? Sie starrte an die Zimmerwand und überlegte. Sie könnte einfach auf ihrem Handy YouTube gucken oder irgendein Spiel spielen. Sie könnte sich auch ihren Laptop holen und Netflix schauen. Oder– „Oder du könntest, wo du schon einmal wach bist, Sport machen", schaltete sich Anas Stimme ein.
„Oh Gott nein!", stöhnte Sahra in ihren Kopf hinein, „nicht so früh am Morgen, darauf habe ich absolut keine Lust. Außerdem werde ich heute doch eh genug Sport machen, da muss ich mich jetzt nicht auch noch damit quälen." Sie schloss die Augen und streckte sich einmal. Nein, Sport würde sie jetzt keinen machen. Nicht, wenn sie heute eh schwimmen ginge. Dann würde sie doch lieber YouTube schauen. Das Let's Play weiter gucken. Also raffte sie sich auf, gähnte, und nahm ihren Laptop von der Couch. Damit er nicht überhitzt und die Lüftung weiter arbeiten konnte nahm sie sich noch ein altes, großes Buch aus einem ihrer Regale und stellte den Laptop darauf. Sie räumte ihre Kissen beiseite und platzierte Buch mit Laptop dort, wo ihr Kopf normalerweise lag. Sie schaltet ihn an und legt sich zurück auf die Matratze. Sie öffnete YouTube und gab in die Suchleiste den Namen des Let's Plays und des YouTubers ein. Gestern Abend, beziehungsweise heute (ganz früh am) morgen, hatte sie bis folge Elf geguckt. Jetzt kam Folge Zwölf. Folge Dreizehn. Folge Vierzehn. Langsam wurde es heller. Folge Fünfzehn, Folge Sechzehn. Die ersten Sonnenstrahlen schienen in ihr Zimmer. Folge Siebzehn, Folge Achtzehn.

Folge Zwan– sie hörte wie in der Wohnung eine Tür aufging. Ihre Mutter war wohl aufgestanden. Schnell pausierte sie die Folge und horchte auf. Ja, da waren Schritte. Schnell klappte sie ihren Laptop zu. Die Schritte kamen näher. Scheiße, bis zur Couch würde sie es nicht mehr schaffen um den Laptop zurückzustellen. Was tun, was tun, was tun? Ihre Mutter war kurz vor der Tür. Eine Eingebung folgend legte sie ihre beiden Kissen auf den Laptop, so dass dieser verdeckt wurde und legt ihren Kopf darauf ab, gerade, als die Tür aufging. Sie schloss die Augen und versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen.
„Morgen Maus", sagte ihre Mutter fröhlich, „Oh Gott, ist das kalt bei dir." Sie ging ein paar Schritte und Sahra hörte das Fenster quietschen. Sie liest die Augen weiter geschlossen und atmete ruhig weiter.
„Ich mache Frühstück, okay?", erklang wieder die Stimme ihrer Mutter. „Sahra?" Ruhig, ruhig, ganz ruhig bleiben, sie darf nichts merken.
„Sahra?" Keinen Mucks machen, keine Bewegung. Sie hörte wieder Schritte, die auf sie zu kamen und wusste, dass ihre Mutter direkt neben ihr stand. Lass dir nichts anmerken. Ein paar Sekunden später entfernten sich die Schritte wieder. Ihre Mutter war wohl wieder gegangen. Die Tür schloss sich und Sahra Atmete erleichtert auf. Puh, sie hatte nichts gemerkt. Glück gehabt. Aus der Küche kamen Geräusche. Geschirr klirrte und Schranktüren öffneten und schlossen sich. Sie schlug die Augen wieder auf. So, sie hatte ihre Mutter erfolgreich getäuscht, jetzt musste sie die Zeit totschlagen, bis sie aufstehen würde. Doch was könnte sie machen? Den Laptop noch einmal anzuschalten war ihr zu gefährlich. Was wäre, wenn sie ihn nicht wieder schnell genug aus bekäme, wenn ihre Mutter erneut ihr Zimmer beträte? Aber mit dem Handy könnte es klappen. Das konnte sie mit nur einem Knopfdruck ausschalten. Allerdings könnte sie nicht über die Lautsprecher des Handys hören, das könnte ihre Mutter dann mitbekommen. Doch Halt, mit Kopfhörern wäre es doch möglich! Ganz leise richtete sie sich auf und schlich zum Schreibtisch rüber, wo ihre Kopfhörer lagen. Sie nahm sie und schlich zurück ins Bett. Jetzt konnte sie weiter gucken.
Folge Zwanzig. Folge Einundzwanzig, Folge Zweiundzwanzig und so weiter. Zwischendurch hörte sie immer einmal wieder, wie ihre Mutter in der Wohnung hin und her ging und irgendetwas machte. Sahra schaute derweil weiter. Immer mal wieder warf sie einen Blick auf die Uhr. 10:30 Uhr, dann 11:00 Uhr. Laila, Maria und sie hatten festgelegt, dass sie sich um 13:00 Uhr bei Laila treffen. Da würden sie dann kurz, oder auch etwas länger, bleiben und von dort aus dann zum Korallenriff aufbrechen. Das hieß, sie würde um kurz nach zwölf zu ihr fahren. Laila wohnte ein gutes Stück von ihr entfernt, sie brauchte eine ganze Weile, bis sie bei ihr war. Also würde sie so ungefähr um 11:30 Uhr aufstehen. In der Zeit müsste sie sich ja nur anziehen und ihre Schwimmsachen einpacken. Frühstücken würde sie ja nicht.
Noch Zwei Folgen schaute sie, ehe sie aufstand. Es war jetzt schon 11:38 Uhr, etwas später als sie eigentlich geplant hatte, doch hatte sie die Zeit aus den Augen verloren. Schnell schnappte sie sich etwas zum anziehen und hetzte ins Bad. Sie ging auf Toilette und zog ihren Schlafanzug aus. Gerade Griff sie zu ihrem Oberteil, da schallte eine Stimme durch ihren Kopf. „WIEGEN SAHRA!" Sie zuckte zusammen und fasste sich an den Kopf. Das kam gerade sehr überraschend. So sehr, dass sie sich bei dieser plötzlichen Lautstärke richtig erschrocken hatte. Anas Stimme hallte in ihren Gedanken wieder. Scheiße ja, sie musste sich wiegen! Vollkommen egal, wie wenig Zeit sie hatte, das musste sie definitiv machen. Sie ließ ihr Shirt fallen und holte die Waage hervor. Abstellen und drauf stellen. Komm schon, komm schon, komm schon. 48,7 Kilogramm. Verdammt Einhundert Gramm mehr als gestern. Hastig räumte sie die Waage zurück. Gerade hob sie ihr Shirt auf, da sah sie aus dem Augenwinkel ihr Spiegelbild. Sie drehte sich nach rechts und betrachtete ihren Körper in der Spiegelung. Sie verzog den Mund. Ein fetter Bauch, wabbelnde Oberschenkel, dicke Waden, dicke Arme, dicker Hals. Alles dick, alles fett. Und so musste sie sich heute im Schwimmbad zeigen. Erneutes Unbehagen stieg in ihr empor. Sie würde ihren dicken Körper lauter fremden Menschen präsentieren. Sie wandte sich ab und zog ihr Oberteil an. Da musste sie jetzt durch. Sie hatte sich verabredet und zu dieser Verabredung würde sie auch erscheinen. Sie schlüpfte in Socken und Hose, griff ihr Badehandtuch und eilte zurück in ihr Zimmer. Dort schnappte sie sich ihre Tasche die sie mitnehmen wollte und stopfte das Handtuch hinein. Ihr Bikini und die Trinkflasche wanderten hinterher und zum Schluss kam noch ihr Portemonnaie dazu. Die Tasche stellte sie im Flur bereit und legte noch ihre Jacke hin. So, jetzt war sie abflugbereit. Zum Glück hatte sie aber noch ein paar Minuten Zeit ehe sie losginge. Als sie zurück auf ihr Zimmer wollte, kam ihr Marlene entgegen.
„Oh, hey Maus. Du bist doch noch aufgestanden. Ich war vorhin schon mal bei dir drin und wollte dich zum Frühstück holen, aber du hast noch tief und fest geschlafen." Sahra lächelte gekünstelt. „Ja, ich bin gestern erst richtig spät ins Bett gegangen, da habe ich dann wohl etwas länger geschlafen." Ihre Mutter schaute auf die Tasche, die bereits im Flur stand.
„Gehst du jetzt schon los?", fragte sie leicht verwirrt. Sahra lächelte weiter. „Ja, wir treffen uns noch bei Laila Zuhause und fahren von dort aus dann los."
„Aber du hast doch noch gar nichts gegessen!", sagte sie entrüstet.
„Ja schon, aber das ist nicht so schlimm. Ich kann ja nachher immer noch etwas essen."
„Was ich aber definitiv nicht machen werde", dachte sie sich entschlossen. Doch ihre Mutter ließ nicht locker. „Du, ich könnte dich doch einfach zu Laila fahren, dann hättest du noch Zeit um zu frühstücken." Gedanklich biss sie sich auf die Lippe. Scheiße, damit hatte sie nicht gerechnet. Aber sie durfte jetzt nichts essen, sonst sähe sie nachher im Schwimmbad nur noch fetter aus. Sie musste sich irgendwie rausreden.
„Äh ne, lass mal. Ich kann auch alleine fahren. Dann bin ich mal ein bisschen draußen und so." Aber Marlene schien noch nicht überzeugt zu sein, also redete sie schnell weiter: „Außerdem ähm, will ich auch gar nichts essen. Mit vollem Magen zu schwimmen ist ja nicht unbedingt die beste Idee." Damit schien sie sich zufrieden zu geben. Sie sagte: „Okay", und ließ Sahra passieren. Diese ging in ihr Zimmer und verbrachte die restliche Zeit auf der Couch.

Als es dann Zeit wurde, zog sie sich an und verließ die Wohnung. Mit Musik in den Ohren lief sie zur Haltestelle, die Tasche hatte sie umgehangen. In der Straßenbahn kaufte sie sich eine Fahrkarte und setzte sich an einen Fensterplatz. Die Fahrt dauerte lange. Sie musste einige Male umsteigen und auch immer wieder auf die nächste Bahn warten.
Schließlich stieg sie an ihrer Ziel-Haltestelle aus und machte sich auf den Weg zu Lailas Wohnung. Beziehungsweise zu der Wohnung ihrer Eltern. Sie überprüfte kurz die Zeit. Es war 12:56 Uhr. Sie lag relativ gut in der Zeit. In gut Zehn Minuten wird sie angekommen sein. Etwas später als 13:00 Uhr, aber das war ja nicht so schlimm. Wenn sie sich verabredeten nahmen sie es nicht so streng mit der Zeit. Hauptsache, man kam so, dass man nichts verpasste. Aber deswegen verabredeten sie sich auch immer etwas zu früh. So hatten sie einen Zeitpuffer.
Als sie vor der richtigen Tür stand, klingelte sie und ihr wurde geöffnet. Sie ging die Treppen hoch in den dritten Stock und sah bereits Laila an der Wohnungstür stehen.
„Hey", wurde sie begrüßt. Sahra lächelte, antwortete: „Hey", und trat ein. Sie umarmten sich und Laila schob sie in ihr Zimmer. Maria war bereits da und saß auf dem Bett, mit Blick auf ihr Handy. Sie schaute auf als Sahra und Laila eintraten und grinste ihr zu. „Servus", sagte sie und stand auf. Sahra grinste auch. „Moin moin", sagte sie und die beiden umarmten sich. Sie stellte ihre Tasche neben Marias ab. Alle drei setzten sich auf das Bett.
„So, und was machen wir jetzt?", fragte sie und blickte in die kleine Runde.
„Maria und ich waren gerade dabei uns gegenseitig Flachwitze vorzulesen."
„Und die sind teilweise so dämlich", stöhnte Maria und schlug sich ihr Handy mehrmals gegen die Stirn. Sahra musste schmunzeln. „Okay, ich mach mit", sagte sie und zog ihr Handy hervor.
„Also, Laila hat eine Seite mit Chuck Norris Witzen offen und ich lese generell Flachwitze vor. Du könntest noch Blondinen Witze übernehmen. Oder Deiner Mutter Witze, such dir was aus." Sie überlegte kurz. „Ach, ich nehm Blondinen Witze." Maria grinste. „Passt ja zu dir."
„Haa-haa", sagte Sahra und verdrehte die Augen.
„Also los, Laila, du bist dran"
„Okay, hier mal ein ganz kurzer: Chuck Norris krümelt beim trinken." Maria vergrub das Gesicht in den Händen. „Es wird immer schlimmer", seufzte sie. Sahra schmunzelte. „Machst du jetzt weiter?", fragte sie zu ihr gewandt.
Maria richtete sich wieder auf. „Ja. Also: Was findet man bei einem Kannibalen in der Dusche? Head and Shoulders."
„Ach und der soll besser sein?", lachte Laila. „Jetzt Sahra." Sie googelte schnell nach ein paar Blondinen Witzen. „Warum hat eine Blondine genau eine Gehirnzelle mehr als ein Pferd? Damit sie beim Fensterputzen nicht aus dem Eimer trinkt." Kurze Stille, dann prustete Laila los.
„Echt jetzt, das findest du witzig?", fragte Maria. Laila lachte weiter. „Ne, ich hab mir nur gerade einen Menschen mit Pferdekopf und blonden Haaren vorgestellt, der aus einem Eimer trinkt."
„Ach, mach einfach weiter", stöhnte Maria. Laila beruhigte sich und blickte wieder auf ihr Handy. „Chuck Norris hat als Kind Priester missbraucht."
„Uuhhhh", machte Sahra und grinste. Maria hob den Kopf. „Na bitte, solche Witze sind doch besser."
„Ja, weil du ja auch eher auf schwarzen Humor stehst." Maria zuckte mit den Schultern. „Na und?", dann las sie den nächsten Witz vor. „Was ist grün, schlau und stellt viele Fragen? Günther Lauch."
Sahra gab sich einen Facepalm. „Ich merke schon, diese Witze sind wirklich, wirklich niveauvoll und haben einen hohen Anspruch", sagte sie sarkastisch. Maria legte den Kopf in den Nacken. „Was erwartest du? Es sind ja auch Flachwitze."
„Keine Hochwitze", sagte Laila grinsend. Maria vergrub erneut das Gesicht in den Händen. „Oh Gott. Mein Gehirn erleidet gerade Schmerzen. Der war ja noch flacher als flach. Der war Eindimensional Scheiße."
„Nicht Nulldimensional?", lachte Sahra.
„Fang du nicht auch noch damit an", stöhnte Maria, „mach bitte einfach weiter."

Und so lasen sie sich mehr Witze vor. Mehr und mehr. Immer abwechselnd. Manchmal mussten sie sogar lachen, doch die meiste Zeit machten sie sich über die grottenschlechten Witze lustig. Als Sahra dann ihren letzten Witz, „Gibt es Blondinen auch mit roten Schamhaaren? In der Regel schon", vorgetragen hatte, nahmen sie ihre Taschen, zogen sich an und machten sich auf den Weg zum Schwimmbad.

Einmal Ana, immer Ana.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt