Und so endete deine Schreckensherrschaft über mich. Mama brachte mich noch am selben Tag zu unserem Hausarzt, kurz darauf hatte ich ein Gespräch bei Frau Doktor Hartmann und jetzt bin ich hier. Hier, im Klinikum Lüneburger Heide. Diesen Brief an dich, Ana, habe ich vor drei Wochen begonnen zu schreiben und bin heute am Zweiundzwanzigsten Mai fertig geworden. Ich habe noch einmal meine ganze Geschichte durchlebt und alles, wozu du mich getrieben hast. Abschließend bleibt mir nur noch eins zu sagen: Ich habe dich geliebt. Ich war dir verfallen und habe mich dir ganz und gar hingegeben, doch diese Liebe war gefährlich. Die Liebe zu dir hätte mir das Leben kosten können, genauso, wie du es von Anfang an geplant hattest. Doch wurde dein Plan vereitelt und ich wurde deinen Klauen entrissen. Ich weiß, dass man sich nicht aussuchen kann in wen man sich verliebt, doch habe ich nur einen einzigen Wunsch: Ich möchte mich nicht noch einmal in dich verlieben.
Deine Sahra.Mit bebender Hand schrieb Sahra diesen letzten Satz zu Ende, dann setzte sie den Stift ab. Kurz schloss sie die Augen und atmete einmal tief durch. Als sie sie wieder öffnete sah sie das Chaos auf dem Tisch vor sich, an dem sie geschrieben hatte. Die Tischplatte war bedeckt mit beschriebenen A4-Seiten, einigen Stiften, Ersatzpatronen und ihrem Etui.
Die Blätter, die sich kreuz und quer verteilt hatten, waren in der oberen rechten Ecke mit einer Nummer versehen. Irgendwo auf diesem Tisch, vergraben unter vielen anderen Seiten, lag das Blatt mit der Nummer Eins. Und die ersten Worte auf diesem Blatt waren: „Liebe Ana". Sie Seite, die gerade vor ihr lag, die letzte auf der sie bis eben geschrieben hatte, trug die Nummer 67 und endete mit den Worten: „Deine Sahra". So wie es sich für einen Brief gehörte. Ihre gesamten Erlebnisse niedergeschrieben auf 67 A4-Blättern. Sie hatte die letzten drei Wochen fast jede freie Sekunde mit diesem Brief verbracht. Sie hatte die Aufgabe bekommen alles aufzuschreiben und jetzt war sie fertig. Ein freudloses Lächeln zuckte über ihren Mund, doch dann kamen die Tränen wieder. Schnell zog sie aus ihrer Hosentasche ein altes Taschentuch hervor und wischte sich damit über die Augen. Nicht noch mal weinen, nein, nicht nochmal. Sie hatte in den letzten Wochen und Monaten oft genug geweint. Sie stand auf und schmiss das Taschentuch in den Mülleimer, dann begann sie den Tisch aufzuräumen. Alle Stifte, Füller und Patronen kamen in ihre Federtasche, die auf ihre Kommode wanderte, dann ging es ans Sortieren. Sie wollte die Blätter erst in die richtige Reihenfolge bringen, ehe sie sie in den Briefumschlag stecken würde, der neben ihrer Nachttischlampe bereitlag. Dann wäre es einfacher sie später zu lesen. Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und begann Ordnung zu schaffen, dabei überflog sie die Blätter noch einmal. Manche Passagen waren fast unleserlich geschrieben, da ihre Hand an diesen Stellen unkontrollierbar gezittert hatte. Manchmal so sehr, dass sie eine Pause einlegen musste ehe sie weiter schrieb. An anderen Stellen war die Tinte fleckenweise zerflossen, da dort ein paar Tränen auf die Blätter getropft waren. Der überwiegende Teil aber war gut erkennbar, nur manchmal wurde die Schrift etwas krakelig, wenn sie sehr schnell geschrieben hatte.Den dicken Stapel A4-Blätter faltete sie schließlich so gut sie konnte zusammen und schob ihn in den Briefumschlag. Es passte alles rein. Dann holte sie noch mal ihren Stift und schrieb auf die Vorderseite „Für Ana", und danach klebte sie den Umschlag zu. Eigentlich war das unnötig, der Brief würde ja nicht verschickt werden und deswegen bestand auch keine Gefahr, dass die Blätter aus dem Umschlag fallen würden, doch Sahra war wohler dabei ihn zu versiegeln. Als eine Art symbolischen Abschluss mit dem ganzen.
Sie stand auf und legte den dicken Brief auf ihr gemachtes Bett. Den durfte sie nachher, wenn sie zu ihrem Einzelgespräch bei ihrer Psychologin ging, nicht vergessen. Lange betrachtete sie den Brief, ihre Unterlippe begann zu beben und sie riss den Blick los. Stattdessen sah sie zum zweiten Bett, das in ihrem Zimmer stand. In diesem Bett schlief ihre Zimmergenossin Alicia, aber da gerade Nachmittag war, war es leer. Sie, die Patienten, durften nicht ohne Erlaubnis auf ihren Zimmern sein. Sie mussten sich in den Gemeinschaftsraum setzen und dort ihre Zeit verbringen, damit die Schwestern und Pfleger sie im Auge behalten konnten. Sahra hatte aber die Erlaubnis bekommen sich zum Schreiben ihres Briefes auf ihr Zimmer zurückziehen zu dürfen, solange die Tür offen blieb, damit jederzeit jemand kontrollieren konnte, dass sie auch nichts verbotenes trieb. Doch der Brief war beendet, der letzte Satz geschrieben, das bedeutete, dass sie jetzt wieder raus und sich zu den anderen in den Gemeinschaftsraum setzen musste. Doch verweilte sie noch kurz und betrachtete eine Zeichnung an Alicias Magnetwand. Es war Sahras Lieblingszeichnung von ihr. Sie zeigte zwei Hände, fest ineinander verschlungen und die Fingernägel hinterließen blutige Kratzspuren auf der Haut des anderen. Unter diesen Händen stand in verschnörkelter Schrift: „Lass mich nicht los". Sie lächelte. Dieses Mal war es ein echtes Lächeln. Diese Zeichnung schaffte es Sahra glücklich und zugleich traurig zu machen. An der Magnetwand - solche hingen in jedem Zimmer über den Betten, damit sich die Patienten dort etwas schönes hinhängen konnte - hingen noch weitere Zeichnungen von Alicia. Sie konnte sehr gut zeichnen, so fand Sahra. Die restliche freie Fläche war mit Postkarten und Briefen, die ihr geschickt worden waren, zugepinnt. Die ganze Wand quoll über von so vielen Zetteln. Sie war bunt und hatte die Ausstrahlung, dass es so viele Menschen gab, die dieses Mädchen vermissten. Dass es so viele gab, die Alicia wiederhaben wollten und ihr eine gute Besserung wünschten. Es versetzte ihr einen Stich ins Herz, der sich verschlimmerte, als sie zu ihrer eigenen Magnetwand blickte. Diese wirkte im direkten Vergleich schon fast kahl und geradezu leer. Es hingen nur wenige Zeichnungen dort, eine hatte Alicia ihr geschenkt, genau Zwei Briefe, einer von Laila, einer von Maria und immerhin neun Postkarten. Doch diese waren allesamt von ihrer Mutter. Sie hatte ihrer Tochter jede zweite Woche eine Postkarte mit lustigen, bunten Motiven geschickt, gefüllt mit lieben Worten, Beteuerungen wie sehr sie Sahra doch vermisse und gute Besserungswünschen.
Sie zwang sich zu einem Lächeln, das keiner sehen konnte. Wieso beschwerte sie sich darüber? Sie sollte froh sein überhaupt Post bekommen zu haben. Und die Worte ihrer Mutter taten auch tatsächlich gut, doch schmerzte es in ihr, wenn sie an Zuhause dachte. Sie vermisste Zuhause. Sie vermisste ihr Zimmer, ihr Bett, ihre technischen Geräte, ihre Mutter, ihre Freundinnen. Sie vermisste sogar Schule! Weil Schule bedeutet hätte, dass sie zuhause wäre.
Plötzlich klopfte es an der offenen Zimmertür und Sahra zuckte zusammen. Herr Fieselner, einer der Pfleger auf Sahras Station, schaute herein. „Bist du fertig mit schreiben?", fragte er mit seiner lauten Stimme, die sie nur sehr ungern hörte, weil sie sie sehr stark einschüchterte. Sie nickte.
„Dann geh bitte zu den anderen in den Gemeinschaftsraum."
„Okay", brachte sie heraus. Hastig verließ sie das Zimmer und ging den breiten Korridor entlang. Niemand sonst war auf dem Gang, Sahra war alleine. Beim Gemeinschaftsraum angekommen blickte sie sich um. Die anderen Patienten saßen verteilt auf Stühlen und dem Sofa und vertrieben sich die Zeit mit diversen Spielen. Auf der Couch laß eine, am Tisch Sahra am nächsten wurde UNO gespielt, weiter hinten Mensch-Ärger-Dich-Nicht und am Tisch am Fenster wurde gepuzzelt. Sahra ging zum UNO-Tisch, an dem Alicia, Robert und Lina saßen.
„Hey", grüßte sie die Runde, „darf ich mitspielen?" Alicia blickte von ihren Karten auf.
„Ja klar. In der nächsten Runde, okay?" Robert nickte zustimmend und Lina saß nur schweigend da.
„Danke." Sie zog einen Stuhl vom Nachbartisch weg und setzte sich dazu.
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Einmal Ana, immer Ana.
JugendliteraturSahra, ein durchschnittliches Mädchen von einer Sekundarschule, das keine größeren Probleme, als das Bewältigen der Hausaufgaben kennt. Zumindest bis zu dem Tag, an dem sie vor dem Spiegel stand und sich als zu dick empfand. Ab da begann der Albtrau...