04 | Zweite Begegnung

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Seit er mir verboten hatte, je wieder diese Gasse aufzusuchen, war ich nicht mehr dort gewesen. Die Angst vor dem Ungewissen war zu groß. Ich konnte mich noch vage an einen schrillen Schrei erinnern, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Die Erinnerungen, an das, was nach dem Schrei geschehen ist, waren wie weggeblasen, als wären da nie irgendwelche Erinnerungen gewesen.

Der Zettel, den ich auf meinem Bett gefunden hatte, war am nächsten Tag verschwunden. Das einzige, das mir bewies, dass ich gestern nicht nur geträumt hatte, waren die Dreckspuren im ganzen Haus. Es regnete durchgehend seit gestern Nacht.

Ich hatte mich mit Mila in einem Café gleich um die Ecke verabredet, um mich abzulenken. Während ich meine Haare bürstete, konnte ich nicht anders, als auf das Spiegelbild der Kette zu starren. Seitdem ich den Zettel erhalten hatte, passte ich noch besser auf sie auf.

Als ich fertig war, schnappte ich mir einen Regenschirm und machte mich auf den Weg ins Café. Mila war anscheinend noch nicht da, weshalb ich uns mit meiner Jacke gleich zwei Plätze reservierte. Damit die Zeit schneller verging, schaute ich mich ein wenig um und ging in Richtung des Klos, das eigentlich nur für Mitarbeiter war, aber weil meine Eltern die Besitzer kannten, war das hier mehr oder weniger mein zweites Zuhause.

Das Klo war am Ende eines endlos erscheinenden Ganges dessen Wände mit Bildern regelrecht zugeplastert waren. Die meisten Bilder waren Familienfotos der Besitzer und Mitarbeiter des Cafés. Die Mitarbeiter wirkten alle wie eine große Familie. Viele arbeiteten schon ihr Leben lang hier.

Zu den Toiletten hin verbreiterte sich der Gang zu einem kleinen Raum, an dessen Wand ein altes Sofa stand, das ich von hier aus noch nicht sehen konnte, weil in der Mitte des Raumes ein Vorhang hing, mit dem der Raum in zwei Hälften geteilt war. Normalerweise war er zurückgezogen. Ich ging auf den Vorhang zu und schob ihn beiseite, doch als ich sah, wer da auf dem Sofa lag, stockte mir der Atem.

Diesmal war er nicht komplett ich schwarz gekleidet. Er trug blaue Jeans, ein weißes T-shirt und eine rote Baseball-Kappe, die er auf seinen Bauch gelegt hatte. Anscheinend schlief er, denn er rührte sich kein Stück und sein Atem ging ganz regelmäßig.

Er sah erschöpft aus. Seine dunklen Augenringe zeugten von viel zu langen Nächten. Kein Wunder, dass er am hellichten Tag schlief.

Eine Weile stand ich nur da, und betrachtete ihn. Seine haselnussbraunen Haare waren ihm stränenweise ins Gesicht gefallen. Sie waren länger, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich wollte mich gerade zum Gehen wenden, als er qualvoll aufstöhnte. Eine tiefe Falte hatte sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet und es wirkte, als wäre er in wenigen Sekunden um Jahre gealtert.

Er drehte sich auf die Seite und die Kappe fiel zu Boden. Ich hob sie auf und legte sie auf das Tischchen neben dem Sofa.

Weil er so gequält aussah, konnte ich nicht anders, als ihm vorsichtig, beruhigend durchs Haar zu streichen. Sofort entspannte er sich. Als er nach meiner Hand griff, zuckte ich instinktiv zurück, nahm dann aber sofort seine Hand in meine.

Er hatte ziemlich große Hände. Meine wirkten dagegen wie Kinderhände.

Ich setzte mich neben ihn und hielt seine Hände. Solange ich ihn berührte, entspannte er sich, aber sobald ich auch nur daran dachte, wegzugehen, war es, als hätte er große Schmerzen.

Auf einmal flackerte das Licht und mit einem Mal war es stockfinster. Stromausfall. Der Raum hatte keine Fenster, weshalb ich nicht einmal meine eigenen Hände sehen konnte.

Ich spürte, wie er sich neben mir aufsetzte. Ich wollte seine Hand loslassen und verschwinden, aber er hielt mich auf.

"Lilith?"

Er hatte sich meinen Namen gemerkt? Moment mal, woher wusste er, dass ich das war? Es könnte ja genausogut jeder andere neben ihm sitzen.

"Lilith?", fragte er noch einmal in die Dunkelheit.

"Ja?"

"Was machst du hier?"

"Ich wollte mich hinsetzten, hab aber dich dann da schlafen gesehen und -", weiter kam ich nicht, da er mir einen Finger an die Lippen legte.

"Shhh ... danke."

"Wofür?"

"Du weißt wofür."

Mit einem Mal ging das Licht wieder an und er war verschwunden. Ich hatte ja gerade noch seine Hand gehalten? Und wofür bedankte er sich?

Ich wurde aus diesem Typen einfach nicht schlau. Aber was mich am meisten nervte, war, dass er mich jedes Mal entweder unterbrach, oder meine Frage einfach überging. Naja, das war auch erst das zweite Mal, dass ich ihn getroffen hatte, falls das in der Gasse nicht er war. Ich hätte ihn darauf ansprechen sollen.

Moment mal, das war das zweite Mal, dass ich ihn überhaupt sah?! Seit wann halte ich am zweiten Tag, an dem ich ihn kannte, schon Händchen? Sag mal, geht's noch, Gehirn? Er ist ein Fremder. Ein Fremder! Ich weiß absolut nichts über ihn. Bis auf seinen Vornamen.

Auch, wenn ich mir das noch hundert Mal sagen würde, ich hatte jedes verdammte Mal, wenn ich ihn sah, das Gefühl, ihn umarmen zu müssen.

Kopfschüttelnd ging ich zurück. Mila musste schon Ewigkeiten auf mich warten.

KimiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt