09 | Gute Nacht

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Nachdem er mir von "dem Bösen" erzählt hatte, war er wieder eingeschlafen. Ich war mir nicht sicher, ob so viel Schlaf überhaupt gesund war. Er hatte nicht einmal etwas gegessen oder getrunken. Aber man sah ihm an, dass er den Schlaf brauchte.

Seine Haare waren teilweise verklebt und völlig durcheinander. Es hingen dürre Zweige und Disteln darin, von denen ich viele schon viele, darauf bedacht ihn nicht zu wecken, vorsichtig herausgezupft hatte. Zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine tiefe Falte gebildet und unter seinen geschlossenen Augen befanden sich große blau-violette Augenringe.

Seine langen Wimpern warfen Schatten auf seine Wangen. Seine kleine Nase war von Sommersprossen geziert.

Ich bemerkte, wie ich wieder ins Schwärmen geriet.

Zumindest seine Lippe sah schon besser aus, als vor ein paar Stunden.

Ich strich ihm ein letztes Mal durch sein weiches Haar und stand auf. Morgen musste ich ihm unbedingt sagen, dass er duschen gehen musste. Er versaute sonst noch mein ganzes Bett.

POV KIMI

Dass ich ihr von ihnen erzählte, kostete mich viel Kraft und Überwindung. Sie hatten mir viel zu viel genommen. Meine Familie, meine Freunde, mein Leben. Einfach alles. Aber ich musste es ihr erzählen, auch wenn das noch lang nicht alles war. Ich konnte sie nicht vor etwas beschützen, von dessen Existenz sie keine Ahnung hatte. Irgendwann würde ich ihr alles erzählen, wenn ich mehr Kraft hatte, denn diese fehlte mir jetzt. Schon allein die Erinnerung an vergangene Tage, Jahre, Jahrzehnte nahm mir all meine Lebensfreude. Aber ich lebte im Jetzt. Jede Sekunde zählte. Meine Vergangenheit konnte ich nicht verändern.

Lilith glaubte wahrscheinlich, ich würde schlafen, doch ich döste nur vor mich hin. Wenn ich schlafen würde, würden mich nur wieder meine Alpträume plagen. Ich schlief schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr richtig, doch bei ihr fühlte ich mich halbwegs sicher. Auch wenn sie nichts ausrichten könnte, wenn sie uns entdeckten. Sie war doch nur ein Mensch.

Ich spürte, wie sie mir durchs Haar strich und aufstand. Sie blieb anscheinend eine Weile neben dem Bett stehen und ließ sich dann wieder darauf fallen. Das wiederholte sie noch zwei Mal. Sie stand auf, wartete eine Weile und ließ sich dann wieder fallen. Ich hatte das Gefühl seekrank zu werden.

"Lass das", murmelte ich mit rauer Stimme und streckte eine Hand aus, um zu ertasten, wo sie saß.

Anscheinend hatte ich ihr direkt ins Gesicht gegriffen, denn sie quiekte erschreckt auf und schlug mir aus Reflex leicht auf die Hand. Ich wollte sie gleich wieder zurück ziehen, um zu verhindern, noch einmal geschlagen zu werden, doch sie hielt meine Hand fest und verschränkte unsere Finger miteinander.

Mich wunderte, dass sie so viel Nähe zuließ. Für sie war ich immer noch ein Fremder, der heute morgen scheinbar ohne Erinnerungen, wie er hier her gekommen war, in ihrem Bett lag. Andere hätten mich unter diesen Umständen wahrscheinlich schon längst vor die Tür gesetzt. Sie hingegen, hat mich verarztet, getröstet und den ganzen Tag in ihrem Bett liegen lassen, das ich wahrscheinlich schon eingesaut hatte.

"Tut dein Rücken noch weh?", hörte ich ihre leise Stimme.

"Es ist halb so schlimm", warum log ich sie an? In Wirklichkeit brannten die Wunden, als würde mein gesamter Rücken in Flammen stehen.

"Ich sehe es, wenn du lügst", meinte sie, "Wenn es nicht so schlimm wäre, würdest du nicht seit zehn Stunden bewegungslos in meinem Bett liegen. Hast du keinen Hunger? Oder Durst?"

"Nicht wirklich."

"Du musst trotzdem was essen. Ich bring dir was", damit stand sie auf.

Ich musste wirklich erbärmlich aussehen, wenn sie sich solche Sorgen um mich machte.

Ich stand vorsichtig auf. Mein T-shirt lag noch immer auf dem Boden, wie ich es hingeworfen hatte. Ich hob es auf. Es sah aus, wie ich mich fühlte. Zerschlagen, erledigt, verwundet. Ich ließ es wieder fallen und beschloss erstmal zu duschen. Langsam schleppte ich mich ins Badezimmer und drehte das Wasser auf. Als ich fertig war, fühlte ich mich wie ein neuer Mensch.

Ich wollte gerade aus der Dusche steigen, als ich bemerkte, dass Lilith vor mir stand. Mit offenem Mund und völlig bewegungsunfähig starrte sie mich an. In dem Moment, in dem ich mir schnell ein Handtuch schnappte, schien auch wieder ihr Gehirn anfangen zu arbeiten, sie sagte nur "Ups" und rannte hinaus. Das alles war in weniger als einer Sekunde passiert, aber ich hatte trotzdem gesehen, wie sie rot angelaufen war. Ein Lächeln konnte ich mir nicht verkneifen.

Ich zog mir meine Hose wieder an und begab mich in ihr Zimmer. Mein T-shirt konnte ich wohl nicht mehr anziehen. Das war ein Fall für die Mülltonne. Es war komplett zerfetzt und sah aus, als hätte man seinen Besitzer umgebracht, während er es getragen hatte, was meine Situation auch fast beschrieb.

Peinlich berührt wich sie meinem Blick aus, als ich mit nassen Haaren ihr Zimmer betrat.

"'tschuldige", nuschelte sie und lief erneut rot an.

POV LILITH

"Halb so schlimm", meinte er nur, als hätte ich ihn nicht gerade nackt gesehen.

Ohne zu übertreiben: Dass er gut aussah, wusste ich vorher schon, aber dass er so gut aussah ... wow.

Ich spürte, wie ich wieder rot anlief.

"Wir sind wieder da!", hörte ich eine Stimme, die ich nicht sofort einordnen konnte, von unten rufen. Dann fiel die Eingangstür ins Schloss.

Scheiße. Mama?

"Du musst dich verstecken. Schnell!", flüsterte ich fast hysterisch. Er sprintete hinters Bett und warf sich zu Boden, ohne auch nur ein Wort von sich zu geben. Ich griff nach seinem T-shirt, dass seit heute Früh mitten im Zimmer lag und warf es ebenfalls hinters Bett. Genau in diesem Moment traten meine Eltern durch die Zimmertür.

"Schätzchen, wir haben dich vermisst", rief meine Mutter und umarmte mich.

"Ähh ... wolltet ihr nicht erst in einer Woche zurück kommen?"

"Ja, aber der Termin wurde verschoben", schaltete sich jetzt mein Vater ein.

Plötzlich ertönte ein Husten hinter meinem Bett. Ich versuchte es sofort damit zu vertuschen, indem ich selbst zu husten begann. Dabei verschluckte ich mich so sehr, dass mir mein Vater auf den Rücken klopfen musste.

Kimi, warum musst du denn jetzt unbedingt husten?

"Du solltest jetzt schlafen gehen. Es ist schon spät. Gute Nacht und ... lass dir das Essen schmecken", meinte meine Mutter und deutete auf das Tablett auf meinem Bett. Das Essen reichte locker für drei.

Als die Tür ins Schloss fiel, sprang Kimi aufs Bett. Anscheinend ging es ihm wieder besser.

"Glaubst du sie hat einen Freund?", hörte ich meinen Vater hinter der Tür fragen.

"Wer weiß. Wenn Mila zu Besuch wäre, hätte sie sie sicher nicht hinter dem Bett versteckt", schmunzelte meine Mutter.

Toll. Sie hatten ihn bemerkt.

KimiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt