06 | Kimi

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POV LILITH

Als ich aufwachte, merkte ich, dass etwas anders war. Ich lag zwar, wie immer in meinem Bett, aber ich konnte mich nicht bewegen. Es war, als hielte mich etwas fest. Ich spürte zwei Arme, die um meinen Bauch geschlungen waren und als ich mich vorsichtig umdrehte, konnte ich meinen Augen nicht trauen. Vor mir lag Kimi. Komplett verheult, mit zerstrubbeltem Haar und einer aufgeplatzten Lippe. Mir war komplett egal, wie er hier in mein Bett gekommen war. Der einzige Gedanke, den ich hatte, war: Was war mit ihm geschehen und wer hatte ihm das angetan? Obwohl er eigentlich ein Fremder für mich war, hatte ich den unbändigen Drang, ihn ... zu beschützen?

So etwas hatte ich noch nie gespürt. Immer war ich diejenige, die beschützt werden musste, die Kleine, auf die jeder Acht gab, damit ihr nichts geschah. Nie hatte ich auf jemanden aufpassen müssen. Ich hatte keine kleinen Geschwister oder Verwandte, die jünger waren. Ich war immer schon die Jüngste gewesen.

Vorsichtig strich ich ihm sein haselnussbraunes Haar aus dem Gesicht, um das Ausmaß des Schadens zu begutachten. Bis auf die blutige Lippe, war ihm anscheinend nichts geschehen. Als ich seine Lippe sanft mit der Fingerspitze berührte, schluchzte er im Schlaf auf und zog mich enger an sich.

Ich wollte ihn zwar trösten, auch wenn ich immer noch keine Ahnung hatte, wie er hier her gekommen war, aber ich musste dringend einmal auf die Toilette. Aufwecken wollte ich ihn nicht, also versuchte ich mich, ohne mich zu viel zu bewegen, aus seinem Griff zu befreien. Es hatte nicht den Anschein, dass er mich so schnell loslassen würde. Irgendwann flüsterte ich verzweifelt: "Ich muss aufs Klo", und genau in diesem Moment ließ er mich los, drehte sich auf die andere Seite und kuschelte sich schluchzend enger in die Decke.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Unter anderen Umständen würde ich ... ach, ich würde es auch so sagen: Er sah verdammt süß aus.

Er gehörte zu den wenigen Menschen auf diesem Planeten, die man sogar süß fand, nachdem sie aus unerklärlichen Gründen koplett verheult und verletzt in deinem Bett lagen. Ich könnte mich nicht daran erinnern, ihn gestern mit zu mir genommen zu haben.


POV KIMI

Sie hatten mich gefunden, wieder. Ich konnte nicht zulassen, dass sie ihr etwas antaten. Ich nahm alles auf mich. Ich sah, was sie mir letztes Mal angetan hatten, schon vor meinem geistigen Auge. Nocheinmal würde ich das nicht durchstehen. Damals hatten mich die Jungs gerettet. Seitdem waren wir unzertrennlich. Doch heute war ich alleine. Niemand würde mich hier finden. Und wenn, würden wir alle nicht lebend herauskommen.

Sie hatten mich in eine dunkle Zelle gesperrt. Ich konnte nichts erkennen. Absoute Finsternis. Ich musste schon Stunden hier sitzen. Zusammengekauert und vor Angst heulend in einer Ecke.

Was danach geschehen war, wusste ich nicht. Das letzte, was ich sah, war ein heller Lichtstrahl.

Ich wusste nur noch, dass mich jemand getragen hatte und ich jetzt in einem weichen Bett lag. Mir war egal, wo ich war. Ich fühlte mich sicher. Die ganze Nacht, hatte etwas warmes neben mir gelegen. Vielleicht ein Tier, vielleicht ein Mensch. Es war mir egal. Mir war alles egal. Das einzige, an das ich in diesem Moment dachte, war, dass ich diese Höllenqualen nicht nocheinmal erleben musste.

Zwar war ich unerklärlicherweise gerettet worden, doch ich schlief sehr schlecht. Ich umklammerte die Wärmequelle neben mir, die sich das zum Glück gefallen ließ und versuchte, nicht an die Geschehnisse der letzten Stunden, die sich wie Jahre anfühlten, zu denken.


POV LILITH

Als ich zurückkam, lag er noch in genau der selben Stellung, wie ich ihn verlassen hatte. Sein Gesichtsausdruck war, als würden alle Ungerechtigkeiten der Welt auf seinen Schultern lasten.

Das konnte ich mir nicht länger mitansehen. Was auch immer ihn plagte, er sollte zumindest ruhig schlafen können.

Ich legte mich wieder hin und als hätte er es gemerkt, drehte er sich zu mir, legte seine Arme um mich und zog mich an sich. Als ich seine Umarmung unsicher erwiderte, huschte der Hauch eines Lächelns über sein Gesicht. Ich wollte gerade die Augen wieder schließen, als er seine aufschlug.

Er starrte mich entgeistert an. "Was ...", fing er an, wusste aber anscheinend selbst nicht, was er fragen wollte.

Er setzte sich auf und verzog vor Schmerzen das Gesicht. Anscheinend war doch nicht nur seine Lippe verletzt.

"Ähm ... das klingt jetzt vielleicht komisch, aber weißt du, wie ich in dein Bett gekommen bin?", fragte er zögerlich.

"Genau das wollte ich dich fragen."

Stille breitete sich aus.

"Was ist mit deiner Lippe passiert?"

Schmerz breitete sich in seinen Gesichtszügen aus und er wich meinem Blick aus.

"Schon gut. Du musst es mir nicht erzählen. Bist du sonst noch wo verletzt?"

"Am Rücken, glaube ich. Ist aber halb so schlimm", meinte er nach langem Zögern.

"Zeig trotzdem her", forderte ich ihn auf.

Langsam, auf jede Bewegung achtend, dreht er sich mit dem Rücken zu mir und zog zaghaft sein fleckiges, wahrscheinlich einmal weiß gewesenes T-shirt hoch.

Mir stockte der Atem. Er war übersäht von blauen Flecken, Schürfwunden und Kratzern.

KimiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt