Gleich nach dem Aufstehen, greife ich nach dem Festnetztelefon und wähle die Nummer von der Schule. Nach einem kurzen Gespräch mit der Sekretärin, welche mir unfreundlich und schlecht gelaunt einen Vortrag hält, warum mein Verhalten unvernünftig sei, schreibe ich Astrid, dass ich heute nicht zur Schule erscheine. Erstaunlicherweise antwortet sie knapp mit einem: Hoffentlich ist es nichts ernstes. Im Bad stelle ich mich wie jeden Morgen unter die Dusche. Doch als das Wasser viel zu schnell kalt wird, trockne ich mich ab und schlüpfe ich in eine schlichte, schwarze Jogginghose und ein schwarzes T-Shirt mit V-ausschnitt. Das Zimmer meines Vaters ist noch genau so unaufgeräumt, wie er es vor seinem Verschwinden verlassen hatte. Rätselnd, wo ich mit der Suche nach hinweisen anfangen soll, sehe ich mich um. Mein Blick bleibt bei einer graubeigen Box mit Messingrand auf dem Holzschrank hängen. Diese Box ist mir bislang nie aufgefallen. Ich ziehe eine Leiter, welche im Zimmer herum steht, heran und hole mir die Box. Eine dicke Staubschicht liegt darauf. Behutsam puste ich die graue Schicht hinunter. Dennoch fange ich von dem Staub an zu husten. Mit einem weißen Stift geschrieben, steht darauf: Tessa. Schlurfend gehe ich zum Sessel der in der Ecke stecht und lasse mich darauf fallen. Stirnrunzelnd öffne ich die Schachtel. Stapelweise und Briefe liegen wild durcheinander gestapelt darin. Ich nehme einen kleinen Stapel Fotos und sehe mir diese an. Die oben aufliegende Fotografie ist ein Farbfoto. Es zeigt eine Frau mit einem Bündel Handtücher im Arm, die auf einem Krankenhausbett liegt. Schwarze Locken wie meine fallen über ihre Schultern und ein breites Grinsen ziert ihr schmales, längliches Gesicht. Insgesamt sieht sie sehr glücklich aus. Da sie aufgerichtet im Bett sitzt, kann ich ihren schmalen, dennoch sportlichen Oberkörper sehen, der in ein übergroßes Sweatshirt gehüllt ist. Lange, dünne Finger und schmale Hände halten die Tücher. In dem Bündel in ihrem Arm ist ein kaum zu erkennendes Baby. Ich drehe das Foto um. Auf der Rückseite steht: Tessa und Tori-Ann Mckenzie.
Meine Mutter hielt mich auf dem Bild auf ihrem Arm. Das muss eins der wenigen Fotos von uns zusammen sein. Mit der Hand wische ich mir eine vereinzelte Träne von der Wange. Schnell lege ich das Foto beiseite und greife nach dem nächsten auf dem Stapel. Zwei Männer sind darauf zu erkennen. Der linke Mann trägt einen rasierten Drei-Tage-Bart. Seine halbmondförmige Brille, lässt darauf schließen, dass es mein Vater ist. Sein ungekämmtes Haar scheint unbändig zu sein. Es hängt ihm wie wild vom Kopf und in sein Gesicht. Er lächelt. Dabei sind tiefe Grübchen zu erkennen. Mein Vater trägt einen neuen schwarzen Anzug mit einer roten Fliege, einem weißen Hemd und einer karierten Weste in Farben des Mckenzie Clans. Neben ihm steht mein Opa in typischer Schottentracht. Sein Kilt bedeckt gerade so sein Knie. Grandpa Kendrick grinst von einem Ohr bis zum anderen. Dabei ist klar zu sehen, dass ihm einige Zähne fehlen und seine grauen Haare sind genau so unordentlich, wie die meines Vaters. Im Hintergrund ist eine alte Kirche zu sehen. Auf der Rückseite steht: 23.04.2003 / Old High Church. Es scheint die Hochzeit meiner Eltern zu sein. Ich beiße auf meiner Unterlippe herum und sehe mir das nächste Bild an. Eine junge, schwarz haarige Version meiner Mutter, mein Vater ohne Brille und ein unbekannter Mann stehen nebeneinander. Alle drei haben vom Wind zerzauste Haare und grinsen breit in die Kamera. Ihre Kleidung lässt darauf schließen, dass sie auf einer Wanderung sind. Eine felsige, fast bergige Landschaft erstreckt sich im Hintergrund. Hinter den dreien steht ein hölzernes Pfadschild, dabei zeigt ein Pfeil nach links und weist den Weg zu Croft of Clune. Ich überlege, wo sich dieser Ort befindet. Irgendwo habe ich diesen Namen bereits gehört. Schlagartig fällt es mir wieder ein. Die Gruppe muss in Newtonmore wandern gewesen sein.
Als ich noch jünger war, ging mein Vater oft mit mir dorthin wandern. Manchmal campten wir dort Wochen lang, auch im Caingroms National Park, der in der Nähe von Newtonmore liegt. Ich lasse die Hand mit den Fotos sinken und bin für einen Moment in meinen eigenen Erinnerungen versunken. Im Frühjahr, wenn die Bäume und Wiesen anfangen zu blühen und ein kalter Wind weht, waren wenige Wanderer unterwegs. Ich kann das von Regen nasse Moos riechen und die Bäche rauschen hören, als wäre ich gerade dort. Das Gefühl von Heimat macht sich in mir breit. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich mich manchmal tagelang weigerte im eiskalten Bachwasser zu baden. Ich weigerte mich so lange, bis der Geruch nach Schweiß so unangenehm und beißend wurde und ich es selbst nicht mehr ertragen konnte. Nur bei dem Gedanken an das Wasser bekomme ich Gänsehaut. Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, war ich gerade am Baden, als ich ein Reh dabei zusah wie es Flußaufwärts in den Bach pinkelte. Noch nie war ich so schnell aus dem Wasser draußen. Mein Vater hatte angefangen zu lachen und gesagt: „So ist die Natur." Den ganzen Tag habe ich nicht mehr mit ihm geredet. Bei dieser Erinnerung muss ich anfangen zu grinsen. Als ich das Foto umdrehe, ist eine Telefonnummer darauf geschrieben. Fragend starre ich auf, die mit schwarzen Filzer geschriebenen Zahlen. Fast schon springe ich von dem Sessel auf, spurte zu meinem Computer und öffne ihn. In die Suchzeile gebe ich diese Nummer ein. Nach einigen Sekunden bekomme ich einige Ergebnisse. Ich klicke auf die erste Webseite, die mir angezeigt wird. Es ist die Seite eines Verlages. In großen, fett gedruckten Buchstaben steht am Kopf der Seite Aidan Relish. Daneben ist ein Bild eines Mannes mit grau melierten kurz geschnittenen Haaren und einer runden Brille. Er sieht aus wie eine ältere Version des Mannes der neben meinen Eltern auf dem Bild aus der Box steht. Ich stelle meinen Laptop auf meinen Schreibtisch, gehe zurück ins Wohnzimmer und wähle im Festnetztelefon die Nummer vom Foto.
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A mysterious Midsummer
AdventureSeit sie denken kann lebt Tori bei ihrem Vater. Durch eine mysteriösen Zufall verschwindet dieser. Allerdings scheint es keine Spur von ihm zu geben. Tori setzt ihr Vertrauen in die örtliche Polizisten. Doch da die Polizei nichts zu unternimmt schei...