18. Kapitel

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„Wir dachten, es wäre das beste", sagt mein Vater kleinlaut. „Das Beste?", schreie ich schon fast. „Mein ganzes Leben ist eine Lüge", hauche ich und raufe meine Haare. „Das stimmt nicht", ruft meine Mutter, „Es sind nur zwei Dinge, die du nicht wusstest. So dramatisch ist das nicht." „So dramatisch ist das nicht?", rufe ich ungläubig, „Weißt du wie das ist, wenn man sein Leben lang denkt, die eigene Mutter ist tot. Plötzlich erfährt man, dass das alles nur vorgetäuscht war. Dazu kommt noch, dass es Werwölfe gibt. Die sollte es eigentlich nicht geben!" Ich laufe im Zimmer auf und ab. Paps kommt einige Schritte auf mich zu und streckt eine Hand nach mir aus. Reflexartig weiche ich zurück. „Fass mich nicht an", sage ich, während mir eine Träne über die Wange läuft. „Beruhige dich", sagt er. Eine tiefe Falte bildet sich auf seiner Stirn. „Nach alle dem soll ich mich beruhigen?", frage ich verständnislos. Emotionen, die ich noch nie verspürt habe, steigen in mir auf. Ich greife mir an die Stirn und laufe weiter auf und ab. Angus kommt auf mich zu und packt mich an den Schultern. „Atme tief durch", flüstert er mir zu. Verzweifelt sehe ich ihn an und versuche mich zu beruhigen. „Das ist zu viel", flüstere ich zurück. „Natürlich ist das zu viel für dich", sagt er verständnisvoll und nimmt mich in den Arm. „Lass meine Tochter los", zischt mein Vater. Ich bin noch nie so wütend geworden. Langsam löse ich mich von Angus und wende mich knurrend meinem Vater zu. Angst spiegelt sich in seinen Augen. Verängstig stolpert er Rückwerts. „Tori-Ann! Beruhige dich!", ruft Tessa, aber ich höre sie kaum. Ein Rauschen in meinen Ohren übertönt sie. Meine Sicht verändert sich. 

Das sanfte Licht blendet mich mit einem Mal und ich kann irgendwie mehr sehen. Ein lautes Knacken aus mir lässt mich zusammen zucken. Es fühlt sich an, als würden meine Knochen zerbersten. Erneut knacken meine Knochen. Ich falle auf alle viere und richte den Blick auf die Wand mir gegenüber. Meine Kleidung beginnt zu reissen. Ich spüre wie etwas weiches sich über meinen Rücken bis zu meinen Handrücken ausbreitet. Graues Fell breitet sich auf meinen Händen aus. „Was passiert hier?", keuche ich. „Du musst dich beruhigen", sagt Angus mit rauer Stimme. Ich sehe ihm in die Augen. Ich sehe diese Wolfsaugen. Beruhige dich, höre ich seine Stimme in meinem Kopf. Ich möchte ihm etwas sagen, doch das einzige was ich hervor bekomme ist ein Knurren. „Tori! Du musst dich beruhigen", wiederholt Angus. Ich weiß nicht wie ich es aufhalten kann, denke ich. Du musst dich beruhigen. Die Verwandlung zieht Kraft aus deine Wut, sagt Angus in Gedanken. Es ist zu spät. Ich gebe einen Schrei von mir, der zu einem ohrenbetäubenden Gebrüll wird. Ein Knurren lässt mich herum fahren. Vor mir steht Angus in Wolfsgestalt. Tori, höre ich ihn in meinen Gedanken. Erneut kochen meine Emotionen hoch und meine Muskeln spannen sich an. Knurrend gehe ich auf meine Eltern los. „Was machst du, Tori?", fragt meine Mutter mit zitternder Stimme. Die Wut, die ich in mir spüre, vernebelt meinen Geist und versperrt meine Erinnerungen. Die nächsten Augenblicke sind wie aus meinem Gedächtnis gelöscht.

Schluchzend sinke ich auf meine Knie. Ich habe gar nicht bemerkt, wie ich mich wieder in einen Menschen verwandelt habe. Blut klebt an meinen Händen und im Gesicht. Meine Kleidung jedoch scheint unversehrt. Rieke, Nathan, Roxana und Tabitha stehen oder knien um mich herum und tuscheln mit einander. Angus sinkt vor mir auf die Knie und streicht mir eine Strähne hinters Ohr. „Sieh mich an", fleht er mich an. Als ich nicht reagiere, legt er mir eine Hand an mein Kinn und zwingt mich sanft ihn anzusehen. „Was ist passiert?", frage ich zittrig. Er schluckt heftig, bevor er sagt: „Deine Eltern sind tot." Erst jetzt sehe ich mich um. Der Körper meines Vaters liegt Blut verschmiert auf der gestreiften Matratze. Eine Blutlache hat sich um ihn gebildet. Davor liegt meine Mutter. Ihre Augen sind noch leicht geöffnet. Mein Atem beschleunigt dich. „Schhh", beruhigt Angus mich. „Das ist alles meine Schuld. Was mache ich denn jetzt?", frage ich. „Darüber machst du dir mal keine Gedanken. Wir werden schon einen Lösung finden", sagt Angus. Erschöpft lasse ich mich in seine Arme sinken. „Ihr haltet mich bestimm für ein Monster", schluchze ich. Vier Hände streicheln über meinen Rücken. „Du bist der selbe Mensch, der du davor warst. Außerdem sind wir deine Freunde. Und Freunde halten zusammen", sagt Tabitha sanft. „Ich bin euch so dankbar, dass ihr zu mir haltet. Womit habe ich euch nur verdient?", schniefe ich unter Tränen. Angus streicht mir erneut eine klebende Strähne aus dem Gesicht und drückt mir einen Kuss auf die Lippen. „Lasst uns gehen", sagt Rieke. Alle bis auf Angus und ich stehen auf. „Was passiert mit meinen Eltern? Ich werde wegen Mordes verurteilt", sage ich ernst. „Vertraue uns. Niemand wird etwas davon mitbekommen", beschwichtigt Roxana mich. Verwirrt sehe ich alle nach einander an. „Was habt ihr vor?", frage ich. „Wir werden ein Feuer legen", sagt Nathan. Ich ziehe scharf die Luft ein. „Es sei denn, du willst im Knast landen", fügt er hinzu. Gemeinsam mit Angus erhebe ich mich. „Wie wollt ihr es anstellen?", frage ich, als mir klar wird, dass ich keine andere Wahl habe. 

„Unter dem Bett liegen einige volle Benzinkanister. Wir werden den Raum damit tränken und anzünden", erklärt Roxana. „Und wie wollt ihr den Raum anzünden, ohne dabei selbst in Flammen aufzugehen?", frage ich nach. „Lass das mal meine Sorge sein", sagt Angus. Etwas wackelig auf den Beinen gehe ich aus dem Raum hinaus. Nathan und Angus verteilen das Benzin im Raum. Hintereinander steigen wir aus einem Fenster. Angus wirft ein brennendes Streichholz in das mit dem Benzin getränkte Zimmer und springt uns hinter her aus dem Fenster. Explosionsartig geht alles in Flammen auf. Elegant rollt er sich über die Schulter ab und kommt vor mir zum stehen. Roxana kramt ihr Smartphone hervor und wählt die Nummer der Feuerwehr. Nach einem kurzen Gespräch, legt sie auf und sagt: „Die Feuerwehr ist unterwegs. Krankenwagen und Polizei kommen auch. Wir sollten aber alle die selbe Geschichte erzählen. Tori, du bist gestolpert und hast dich verletzt. Blöderweise bist du gegen einer der Benzinkanister gestoßen und hast diese umgestoßen. Dadurch hat sich das Benzin verteilt. Nathan hat kurz darauf seine Zigarette fallen lassen und deswegen brennt es." Ich nicke dankbar. In der Ferne sind Sirenen zu hören. „Wir sollten zum Hauptgebäude zurück gehen", sagt Angus. Er greift nach meiner Hand und zieht mich mit sich. Schweigend stapfen wir zur Eingangstür. Ich kann immer noch nicht begreifen, was gerade passiert ist. Meine Eltern wurden von mir umgebracht. 

Kurz nachdem wir wieder vor dem Hauptgebäude stehen, kommt das erste Fahrzeug der Feuerwehr um die Ecke gerast. Das Blaulicht erleuchtet den Großteil des Geländes und wirft Schatten an die Wände. Neun Männer springen aus heraus und beginnen die nötige Ausrüstung heraus zu holen. Zwei Feuerwehrleute sind mit Atemschutzgeräten ausgestattet und bahnen sich ihren Weg zum Feuer. Ein weiteres Feuerwehrauto kommt angerast. Kurz darauf folgt ein kleiner Polizeiwagen. Daraus steigen zwei uniformierte Beamte aus und kommen auf uns zu. „Wer von ihnen ist Roxana?", fragt einer. Roxana hebt die Hand: „Ich!" Der schlanke Beamte mustert mich und fragt: „Sind Sie diejenige, die sich verletzt hat?" Ich kann nur nicken. Meine Stimmbänder fühlen sich wie gelähmt an. Durch das Funkgerät an seiner Schulter gibt er eine Nachricht durch. Kurz darauf kommt ein Rettungswagen auf den Platz gefahren. Aus der Rückseite kommt ein Sanitäter mit der Trage gesprungen und rennt auf uns zu. Als er mein mit Blut bespritztes Gesicht sieht, weiten sich seine Augen kaum merklich vor Schreck. Ein Rauschen in meinen Ohren übertönt die Stimmen um mich herum. Ich sehe wie Angus mit dem Sanitäter spricht. Angus führt mich zu dem Rettungswagen. Ich lasse mich auf den Sitz im Inneren nieder. Der Sanitäter beginnt das Blut von meinen Wunden zu tupfen und Pflaster darauf zu kleben. Für einen Moment schließe ich meine Augen und denke an das was gerade passiert ist. Ich habe meine Eltern umgebracht, schießt es mir durch den Kopf. Erneut steigen mir Tränen in die Augen. Angus kniet sich vor mich und sieht mir eindringlich in die Augen. „Du trägst keine Schuld daran, was eben passiert ist", flüstert er gerade so laut, dass ich es verstehen kann. Sanft streicht er mir über das Knie, um mich zu beruhigen. Ich lege meine Hand auf seine Wange und streichle mit dem Daumen darüber. Seine winzigen Bartstoppeln kratzen, aber das stört mich nicht. 

Ob er mit mir zum Abschlussball gehen würde?, denke ich. Der Gedanke scheint mir banal, aber er ist wie ein Lichtblick. „Würdest du mit mir zum Abschlussball gehen?", frage ich in die Stille. Etwas verwirrt sieht Angus mich an, bevor er antwortet: „Es würde mich freuen." Er gibt mir einen Kuss auf die Wange. Ich lächle ihn an und versuche dabei zuversichtlich auszusehen. „Wie fühlst du dich?", unterbricht der Sanitäter uns. „Nein. Ich stehe nur etwas unter Schock", erwidere ich. Er reicht mir einen Pappbecher und sagt: „Trink einen Schluck. Dann wird's besser." Ich nehme das Wasser entgegen und trinke. „Kannst du uns kurz alleine lassen?", fragt Angus den Sanitäter. Dieser nickt nur und steigt aus dem Auto. Ratlos sehe ich ihn nach. „Das was heute geschehen ist, darfst du niemals deiner Freundin Astrid erzählen", sagt Angus eindringlich. „Warum nicht? Sie ist meine bester Freundin. Mehr als das. Astrid ist wie meine Schwester, die ich nie hatte", entgegne ich. Er schüttelt mit dem Kopf. „Ich weiß, aber es ist zu gefährlich", sagt er. Fassungslos sehe ich ihn an. „Was ist daran gefährlich?", frage ich nach. Betrübt sieht Angus zur Seite. „Sieh mich an", flüstere ich und zwinge ihn sanft mich anzusehen. „Hast du schon einmal etwas von den Wolfsjägern gehört?", fragt er. Ich schüttle heftig den Kopf. „Hat Astrid dir gegenüber jemals etwas erzählt, was für dich seltsam klang?", fragt er. Für einen kurzen Moment überlege ich. „Sie hatte, vor allem als sie jünger war, seltsame Träume. Ich kann mich allerdings nicht mehr erinnern, was genau sie träumte", sage ich. Angus nickt. „Sie hat das zweite Gesicht. Das bedeutet, dass sie Werwölfe erkennen können. Seit es uns gibt, gibt es auch Wolfsjäger. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, uns zu jagen und zu vernichten. Deswegen vertraue ich ihr nicht", sagt er. Zwar verstehe ich noch nicht alles, aber ich gebe mir mühe. „Okay", kann ich nur sagen. 

A mysterious MidsummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt