7. Kapitel

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Als ich am Mittwochmorgen zu der Bushaltestelle schlendere, ziehe ich meinen schwarzen Mantel enger um mich. Obwohl starker Regen und heftige Windböen zu dieser Jahreszeit nicht unüblich sind, wirkt der heutige Regen noch stärker als sonst. In Gedanken versunken, denke ich über das gestrige Treffen nach. Die Vermutung, dass diese Wohngemeinschaft etwas mit dem Verschwinden meines Vaters zu tun haben könnte, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie so oft reißt mein Smartphone mich aus den Gedanken. Meine Mutter fährt mich in die Schule...wir sehen uns dort - Astrid. Innerlich stöhne ich. Wahrscheinlich ist das meine Strafe dafür, dass ich gestern nicht in der Schule war. Als ich fast die Haltestelle erreiche, hält ein Motorrad neben mir. Der Fahrer zieht seinen Helm ab. „Eine Mitfahrgelegenheit gefällig?", sagt er. „Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, Angus", sage ich grinsend, lasse mich dennoch hinter ihm auf das Motorrad gleiten. Er reicht mir einen Helm und zieht seinen auf. Auch ich ziehe einen an. Ruckartig fährt er los. Die Fahrt mit dem Motorrad ist nicht mehr so beeindruckend wie bei den ersten Malen. Dennoch klammere ich mich noch immer an Angus fest. Kurz vor der Schule werden wir von dem Schulbus und zwei Autos überholt. Auf dem Parkplatz steige ich nicht ganz so elegant ab und reiche ihm meinen Helm. „Behalte ihn. Du wirst den wahrscheinlich noch öfters brauchen", wehrt er ab. „Wenn du meinst", entgegne ich, kann mir aber ein Lächeln nicht verkneifen. Während wir zum Schulgebäude gehen, legt Angus einen Arm um mich. Mehrere Mädchen drehen sich mit offener Kinnlade zu uns um. Ohne nachzudenken, lege ich einen Arm um seinen Rücken. Schief grinsend sieht Angus auf mich hinab. Ich kann nicht anders als zu ihm hinauf zu schmunzeln. „Ich glaube mich tritt ein Pferd", höre ich eine vertraute Stimme. „Es ist auch schön dich zu sehen", begrüße ich Astrid lachend. Mit einem einfachen Kopfnicken begrüßt sie Angus. „Beehrst du uns wieder mit deiner Anwesenheit. Sogar in Begleitung", sagt sie spöttisch. Ich verziehe mein Gesicht zu einer undefinierbaren Grimasse. Mit einem Blick auf meine Uhr sage ich: „Wir müssen uns beeilen. Miss McRae hat es nicht gerne wenn man zu spät kommt." Murrend schlurft Astrid neben mir her und lässt eine Menge an Schimpfwörtern los, um ihrer Unlust Raum zu verschaffen. „Beruhig dich. Das macht es auch nicht besser", kommentiere ich ihren Wortschwall. Am Klassenzimmer angekommen, beendet Astrid ihre Schimpftirade mit den Worten: „Der Unterricht beginnt doch erst in fünf Minuten!" „Lass uns auf unseren Platz gehen, bevor wir Ärger bekommen", sage ich bloß. Maulend schlurft Astrid auf ihren Platz zu während ich ihr folge, da ich direkt neben ihr sitze. Angus folgt uns auf Schritt und Tritt. Gerade als Miss McRae den Raum betritt und uns mit einem lauten „Hallo!" begrüßt, knackt es in den Lautsprechern und die Stimme des Direktors sagt: „Liebe Schüler und Schülerinnen. Wie ihr mit einem Blick aus dem Fenster bemerkt haben könntet, ist das Wetter miserabel. Da es für den Rest der Woche um einiges schlechter aussieht, gebe ich euch frei. Wir sehen uns nächste Woche Montag." Erneut knackt es in den Lautsprechern, dann herrscht Stille. Im nächsten Moment bricht die Hölle los. Alle in diesem Raum brechen in Jubelrufe aus. „Dein Glück möchte ich haben. Erst entschuldigt sein, dann den Rest der Woche frei bekommen", sagt Astrid gespielt gekränkt. Unschuldig grinse ich sie an. „Ich muss los. Es ist ein Einsatz", mit den Worten sprintet Angus los und ist plötzlich verschwunden. Verdattert sehe ih ihm nach. „Seltsam", sagt Astrid. Zustimmend nicke ich. „Wie kommst du nach Hause?", frage ich. „Wohl oder übel muss ich bei dem Wetter mit dem Schulbus fahren", sagt sie. „Dann sind wir schon zu zweit", lache ich. Astrid stimmt in mein Gelächter mit ein. Nach ein paar Minuten zittert mein ganzer Körper vor lachen, aber kein Geräusch kommt mehr über meine Lippen. Wir schlendern zur Bushaltestelle. „Was machst du heute noch?", fragt mich Astrid, als unser Gelächter verstummt. „Der alte Bekannte meines Vaters hat von dieser Wohngemeinschaft geredet, die wollte ich eigentlich besuchen, aber solange es so fest regnet, brauche ich nirgends hinfahren. Und du?", entgegen ich. Schulterzuckend sagt Astrid: „Ich treffe mich heute mit Evan." Ich überlege kurz. Evan ist Astrids Freund. Sie hatte ihn auf Nathans Feier kennengelernt. Eine weile laufen wir schweigen neben einander her. Bedrückt sehe ich auf den Gehweg. „Da kommt schon unser Bus", sage ich in die Stille. „Na endlich", erwidert Astrid knapp. Schweigend steigen wir ein. „Wann ist der Schulball?", nehme ich das Gespräch wieder auf. „Am 31. Mai. Das Thema ist Midsommer", erzählt Astrid. Ihre Augen leuchten vor Begeisterung auf. Das liebe ich so an ihr. Es ist schwer sie zu begeistern, doch wenn man es geschafft hat, ist sie mit Leidenschaft dabei. „Besonders angesagt, werden die Farben die ins rot oder orange gehen. Ach... wenn ich nur daran denke...", schwärmt sie. Belustigt lausche ich ihrer Schilderungen von der Dekoration. „Ich muss hier leider aussteigen, aber wir werden dieses Gespräch bei Gelegenheit fortsetzen", sage ich und umarme sie zum Abschied. „Bis dann", sagt Astrid schlicht. Ich springe aus dem Bus und schlendere zu dem Wohnhaus neben dem Buchladen meines Vaters. Vor der Haustür bleibe ich stehen. Spontan gehe ich zu der Buchhandlung und öffne die Tür. Der Geruch von Buchleim und Papier kommt mir entgegen. Als ich einige Schritte in das Geschäft mache, muss ich an den Tag denken, an dem ich meinen Vater das letze mal gesehen habe. Obwohl es erst eine Woche her ist, fühlt es sich an wie eine Ewigkeit an. Tausend Fragen schießen mir durch den Kopf. Warum mein Vater? Was hat er getan, um entführt zu werden? Wo ist er jetzt? Lebt er noch? Tränen vernebeln mir die Sicht und ich lasse mich gegen den Tresen sinken. Das Plumpsen meiner Tasche durchschneidet die Stille und erinnert mich daran, wie Leer und verlassen ich mich fühle. Schluchzend sehe ich mich um. Ohne meinen Vater wirkt der Raum unbewohnt und unwirklich. Da ich das Bedrückende nicht länger ertrage, stürme ich aus dem Buchladen und schließe die Tür hinter mir ab. Mit einem Ärmel wische ich mir über die Augen. Ich schlurfe zu der Wohnung und öffne diese. Als ich auf mein Smartphone sehe, ist es erst neun Uhr. Die Regenwolken haben sich verzogen. „Vielleicht sollte ich doch zu dieser Wohngemeinschaft fahren?", überlege ich. An Aidan Relish, den Verleger, schreibe ich eine Nachricht:

A mysterious MidsummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt