19. Kapitel

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Nachdem wir uns einem Verhör der Polizei unterzogen haben, gehen wir wieder in die Wohngemeinschaft. Eileen hat bereits das Feuer im Kamin angefacht. Eine wohlige Wärme schlägt mir entgegen, als wir eintreten. „Ich habe euch heiße Schokolade gemacht", sagt sie liebevoll. „Tori sollte sich erstmal duschen", sagt Angus und lächelt mich zuversichtlich an. Ich nicke nur. Vorsichtig schiebt mich Angus die Treppe hinauf, in ein kleines Badezimmer. „Ich hole dir frische Kleidung", sagt er und verlässt das Bad. Ich schließe die Tür, streife meine Kleidung ab und stelle mich unter die Dusche. Lauwarmes Wasser strömt über mich. Das Blut wird von mir gespielt und verfärbt den Boden dunkel rot. Es klopft an der Tür. „Ich bin es", sagt Angus. „Komm rein", bitte ich ihn herein. „Hier sind eine Hose und Shirt für dich", sagt er. Ich bedanke mich bei ihm. „Wenn du noch etwas brauchst, kannst du mich rufen", fügt er hinzu und geht aus dem Bad. Ich schließe die Augen und lasse den Wasserstrahl auf mich prasseln. Vor zwei Stunden habe ich heraus gefunden, dass meine Mutter noch lebt und mein Vater mit ihr gegangen ist. Nun sind sie beide wegen mir tot. Als das Wasser wieder klar ist, drehe ich den Hahn zu und trete ich aus der Dusche. Sachte trockne ich mich ab und schlüpfe in die Kleidung, die Angus mir zurecht gelegt hat.

Von Schuldgefühlen geplagt, schlendere ich die Treppe hinunter. Vor dem Kaminfeuer sitzen Roxana, Tabitha und Angus. Die Drei flüstern miteinander. Vereinzelt bekomme ich Gesprächsfetzen zu hören, die sich anhören wie: „Das kannst du nicht von ihr verlangen." Ich räuspere mich Die Diskussion verstummt und drei Gesichter wenden sich mir schlagartig zu. „Worüber habt ihr geredet?", frage ich nach. Betreten schauen sie zu Boden. „Ihr könnt es mir bedenkenlos sagen. So sensibel bin ich nicht", fordere ich meine Freunde auf. Angus sieht mich als erster an und sagt: „Wir haben uns überlegt, dass du vielleicht zu mir ziehst. Der Ort wo du derzeit lebt, wird dich an zu vieles erinnern." Ohne zu antworten lasse ich mich neben ihm auf die Couch fallen. „Hast du gar nichts dazu zu sagen?", fragt Roxana. „Ihr habt schon recht. Wenn ich in der Wohnung wohnen bleibe, werde ich nie über diese Nacht hinwegkommen, aber ich kann mein altes Leben nicht einfach so hinter mir lassen", sage ich. Zum unzähligsten Mal in den letzen Stunden bin ich den Tränen nahe. Angus legt einen Arm um mich, während Tabitha mir beruhigend über den Oberschenkel streicht. „Das verlangt auch keiner von dir. Sobald du bereit dazu bist, werden wir dir helfen", sagt sie. „Ich bin euch so unendlich dankbar. Nach alle dem was ich angerichtet habe, bleibt ihr bei mir und kümmert euch um mich. Das habe ich nicht verdient", flüstere ich. „Sei nicht so hart zu dir. Wir haben alle ähnlich schlimmes durchleben müssen", beruhigt Angus mich. Stille macht sich nun zwischen uns breit. „Bist du damit einverstanden zu mir zu ziehen?", fragt er mich. „Wenn das für dich in Ordnung ist?", frage ich nach. Er lacht. „Natürlich ist das für mich in Ordnung. Ich freue mich sogar", sagt er und streicht mir über die Locken. „Wir helfen dir auch beim packen und umziehen", bestätigt Roxana. Ich ringe mir ein Lächeln ab.

***

Kaum zwei Wochen später ist es soweit. Nach Unmengen an Telefonaten habe ich den Mietvertrag gekündigt. Es ist unglaublich wie viel Papierkram so eine Kündigung mit sich bringt. Den Buchladen meines Vaters habe ich auf Eileen Steward überschrieben. Ich kann mich noch immer nicht von dem Laden trennen. Zu viele glückliche Erinnerungen hängen daran, als das ich diesen aufgeben oder in fremde Hände übergeben könnte. Obwohl meine Eltern mir so viel verschwiegen haben, bedaure ich meine Tat. Meine unbändigen Gefühle haben mich übermannt. Nun stehe ich in der leeren Wohnung, vor dem Zimmer meines Vaters und starre ins Nichts. Die Sehnsucht ihn noch einmal in die Arme schließen zu können und ihm zu sagen wie sehr ich ihn vermisse, beschert mir eine Gänsehaut. Ein seltsames, flaues Gefühl macht sich in meinem Magen breit. Das Gefühl von Endgültigkeit, vermischt mit Schuldgefühlen kommt hinzu. „Bist du soweit?", fragt Angus. „Gib mir noch einen Moment", bitte ich ihn. „Lass dir Zeit", sagt er und verschwindet wieder. Soweit ich mich zurück erinnern kann, lebe ich schon in dieser Wohnung. Am Türrahmen hat Angus einen Balken hinaus geschnitten. Daran habe ich mich immer gemessen. Mein Vater hat dann immer einen Strich gemacht und die Größe dazu geschrieben. Sachte streiche ich über die Stelle. Mein Blick wandert ein letztes Mal durch den Raum, bevor ich mich abwende. Gemächlich schlendere ich durch das Wohnzimmer zum Fenster. Ein letztes Mal sehe ich hinaus auf den Verkehr und die vielen Menschen, die eilig ihre Geschäfte erledigen. Um nicht wieder in Tränen auszubrechen wende ich zum gehen. Da fällt mir eine lose Diele im Parkett auf. Das Holz ist heller, da dort der Teppich lag. Vorsichtig gehe ich in die Knie und beuge mich vor. Unter der Diele scheint sich etwas zu verstecken. Ich drücke diese nach oben, um sie zur Seite zu schieben. In dem Loch was sich auftut, kommt eine kleine, schmale mit Ornamenten verzierte Box zum vor scheinen. Darunter liegt ein durch die Jahre vergilbter Brief, der mir fast nicht aufgefallen ist. Ich öffne den Brief und beginne zu lesen:

Meine kleine Tori-Ann,

wenn du dies hier liest, bin ich wohl schon tot. Die Wohnung wirst du wohl aufgegeben haben und bist gerade dabei auszuziehen. Dennoch bitte ich dich darum, den Worten deines alten Herren ein letzen Mal Gehör zu schenken. Wie du wahrscheinlich heraus gefunden hast ist deine Mutter noch am leben. Wahrscheinlich bist du auch längst dahinter gekommen, warum sie noch lebt und warum du nie etwas davon erfahren hast. Auch unser Familiengeheimnis dürfte dir nicht länger verborgen sein. Der Grund warum ich dir diesen Brief schreibe ist nicht, dass ich mich für irgend etwas rechtfertigen möchte, denn dafür ist es zu spät. Dafür habe ich zu viele Fehler gemacht. Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Meine Schuldgefühle plagen mich noch immer und halten mich oft Nächte lang wach. Du kannst nichts dafür, dass wir dir es nicht erzählt haben und dennoch kannst du dir denken warum wir es getan haben. Zu oft wirst du diesen Satz schon von mir gehört haben: Es ist zu deiner Sicherheit. Und das ist es auch. Als Vater trage ich den Instinkt in mir dir Sicherheit zu geben. Als Wolf fühle ich mich dazu verpflichtet meine Familie zu beschützen. Du bist meine Familie. Mein ein und alles. Ich liebe dich über alles. Als deine Mutter uns verlassen hat, habe ich anfangs dir die Schult gegeben. Je älter du wurdest, um so klarer wurde mir, dass du für mein Schlamassel, in das mich deine Mutter gebracht hat, nichts konntest. Das einzige, was du gemacht hast, warst, du selbst zu sein. Darauf bin ich Stolz. Ich bin Stolz darauf, was für ein unglaublich intelligenter, witziger, lebensfroher Mensch du geworden bist. Dazu kommt die Schönheit, die du von deiner Mutter geerbt hast. Es tut mir leid, dass ich der Vergangenheit nachhing und der Gegenwart und Zukunft keine Beachtung geschenkt habe. Es tut mir leid, für all die Lügen und Geheimnisse die du so schmerzvoll allein heraus finden musstest. Es tut mir leid, dass ich mich nicht überwinden konnte, dir die Wahrheit zu sagen. Es tut mir leid, dass ich als Vater versagt habe. Meine Taten waren zu deiner Sicherheit und doch brachten sie dich in Schwierigkeiten. Es tut mir so unendlich leid. Auch wenn es sehr lange dauern wird, hoffe ich, dass du mir irgendwann vergeben kannst. Du bist das einzige, was mir vor Augen geführt hat, wie wichtig Familie und Ehrlichkeit ist. Nachdem ich deine Mutter verloren habe, hatte ich unendlich Angst dich auch noch zu verlieren. Dadurch habe ich uns auseinander getrieben. Bitte verzeih mir.

In Liebe

Dein Vater (Kenndrick Mckenzie)

Mein Kiefermuskel ist angespannt und warme Tränen befeuchten meine Wangen. „Ich verzeihe dir, Paps", flüstere ich. Als ich wieder etwas klarer sehen kann, öffne ich die Box. Darin ist, in Samt eingebettet, ein silbernes rundes Medaillon. Kunstvoll sind Blumen und winzige Zweige darin eingearbeitet. Als ich das Schmuckstück aufklappe, kommt eine kleine Fotographie zum Vorschein. Ich sitze als kleines Kind auf dem Schoß meines Vaters, der einen Arm um meine Mutter gelegt hat. Wir drei grinsen fröhlich in die Kamera. Auf der Rückseite der Kette ist etwas eingraviert: „luceo non uro". Von meinem Großvater, weiß ich, dass dies unser Familienmotto ist. Gedankenverloren streiche ich über die Gravur. Ich lege das Medaillon wieder in die Schatulle, stecke den Brief wieder in den Umschlag und stehe schwerfällig auf. Bevor ich die Wohnung verlasse wische ich mir Tränen von den Wangen. Angus wartet im Umzugswagen auf mich. „Bereit?", fragt er, als ich mich neben ihn setze. „Lass uns das schnell erledigen", sage ich. Ruckartig setzt sich das Auto in Bewegung. „Was ist das?", fragt er und deutet auf das Kästchen und den Brief. Für einen Moment starre ich darauf. „Eine Erinnerung an meine Familie", sage ich. Bevor eine unangenehme Stille entstehen kann, räuspre ich mich und frage: „Gehst du mit mir zum Abschlussball?" Ein Lächeln macht sich auf Angus' Gesicht breit. „Ich freue, mit dir dorthin zu gehen", sagt er und greift nach meiner Hand, um diese zu drücken.

A mysterious MidsummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt