Lost

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Nur noch 15 Minuten. Dann konnte ich endlich wieder eine rauchen.

"... Also möchte ich euch bitten, in zweier Teams zusammen zu kommen. Ihr dürft euch euren Partner selber wählen. Die Präsentation ist dann am 25.10.2014 in der Aula." Mrs Voyage laberte sich einen Arm ab, dabei hörte ihr schon längst keiner mehr zu, da jeder damit beschäftigt war, sich seinen Partner zu suchen.

Nur ich nicht. Meine Hände waren in den Taschen meines schwarzen Hoodies gesteckt und mein Blick starr aus dem Fenster gerichtet. Für Mitte August war das Wetter zu stürmisch und grau.

"Es geht nicht auf, Mrs Voyage. Es muss eine Dreiergruppe entstehen", warf Tiffany ein und hielt ihre zwei besten Freundinnen am Arm fest.

Ich rollte genervt mit den Augen. Ging das schon wieder los?

Plötzlich öffnete sich die Tür. Ein verpeiltes Mädchen stolperte außer Atem in den Raum. "Sind Sie Mrs Voyage?", fragte sie. Ihre Stimme klang ruhig und hell, als hätte sie gerade ihren Hals mit Buttercreme einbalsamiert. "Kunst?"

Das erste, was mir an ihr auffiel, waren ihre ungekämmt aussehenden Haare, die ihr bis zum Hintern gingen. Sie hatte einen Mittelscheitel, der nahezu symmetrisch war.

"Ja, die bin ich", sagte die Hexe nickend. "Violet Roy?" Mrs Voyage richtete ihre strenge Brille und schielte auf die Anwesenheitliste.

Das Mädchen nickte nur. Ihre hellen, blauen Augen waren weit geöffnet. Ich kannte sie zwar nicht, aber sie nervte mich jetzt schon.

"Es tut mir leid", sagte sie und zog ihre feinen Augenbrauen zusammen. "Ich habe verschlafen. Und dann den Bus verpasst. Und dann den Raum C 217 nicht gefunden." Sie schüttelte den Kopf. "Es wird nicht noch einmal vorkommen."

Die Lehrerin zog streng ihre knittrigen, rot bemalten Lippen ein, setzte ihr Häkchen und richtete sich dann an die Klasse. "Möchte jemand von Ihnen Violet erklären, was uns wichtiges bevor steht?"

Die Klasse schwieg, bis Tiffany sich opferte und ihren Arm hob, der in einem karierten Gucci Blazer steckte. "Wir müssen in Partnerarbeit ein Kunstprojekt vorstellen... Vor der gesamten Schule." Sie erklärte es ganz langsam und gelangweilt, fuhr sich durch ihren Pferdeschwanz und sah die Neue so an, als würde sie ihr nicht zutrauen, sich alleine die Schuhe zu binden zu können. "Deadline ist der 25. Oktober. Es kann alles sein - ein Song, ein Theaterstück, ein Gemälde, ein Kurzfilm, ein Gedicht... Das Thema ist Lebenswelten."

Die Neue hatte jetzt schon verloren. Der erste Eindruck war gefallen und ich wusste jetzt schon, dass der gesamte Kurs sie abgeschrieben hatte. Tiffany hatte so eben das Schicksal der verpeilten Brünnete bestimmt. Nicht, dass es mich was interessierte. Ich konnte sowieso niemanden leiden.

Und da die meisten Angst vor mir hatten, ließen sie mich in Ruhe. Ich war ein Außenseiter, weil ich einer sein wollte.

"Ach ja", fügte Tiffany abschätzig hinzu. "Es handelt sich um einen Wettbewerb. Die Gewinner bekommen jeweils ein Stipendium für die NJCU. Der zweite Platz bekommt 500$ und der dritte Platz 100$."

Sie blickte siegessicher in die Runde. "Mögen die besseren gewinnen", lachte sie. Sie war sich ihrer so sicher, weil sie über 4000 Abonnenten auf Youtube hatte. Sie covert Songs auf ihrem Keyboard.

Wieder brach großes Gerede aus. Partner fanden zusammen, während ich auf meinem Platz blieb. Niemals würde ich da mitmachen. Auch wenn ich wahrscheinlich der war, der die Preise am nötigsten hatte.

Ich wohnte in einer fucking Wohngruppe. Meine Noten waren tiefer gesunken als der Ausschnitt von Tiffany.

Fakt war, dass es mich nicht interessierte. Ich ging nur zur Schule, um keine Sozialstunden absolvieren zu müssen. Ich hatte schon viele Verwarnungen bekommen. Und in der Schule zu sitzen war immerhin besser, als im Kindergarten den Rasen zu mähen.

Die Welt hatte für Menschen wie mich keinen Platz. Menschen, die nicht in die Gesellschaft passten. Die lieber sterben würden, als in einem verfickten Büro zu arbeiten. Widerliche Ratten, dessen Schwänze aus Kravatten bestanden.

Mein Blick schweifte ohne Fokus durch die Klasse. Ich wollte auf die Uhr über der Tür sehen, doch blieb mein Blick an diesem in Gedanken versunkenen Mädchen hängen. Sie stand noch immer da, wo sie am Anfang stand - neben dem Lehrerpult. Sie spielte an den Schnallen ihrer Tasche herum und blickte nervös um sich.

Die kleine hatte echt Pech gehabt. Diese High School war nicht ihr Revier. Es hieß fressen oder gefressen werden. Sie hatte schon verloren, als sie in diese Klasse gestolpert ist. Die Art, wie sie sich bewegte, wie sie sprach und wie sie ihre Umgebung um sich herum wahrnahm, schrie danach, dass sie das nächste Mobbingopfer sein würde.

Die Lehrerin klatschte zwei Mal in die Hände und hob dann ihre Hand. "Hat jeder einen Partner?", fragte sie laut, um gegen das Gemurmel der Schüler anzukommen.

"Ja-ha", antworteten die meisten genervt.

Ich beobachtete die Neue ganz genau. Es war fast witzig, wie sie sich quälte. Ich konnte in ihrem Gesicht lesen, wie sie mit sich Rang. Sie fragte sich, ob sie der Lehrerin sagen sollte, dass sie keinen Partner gefunden hatte, oder ob sie einfach warten sollte, ob sich noch jemand anderes zu Wort meldete, um zu sagen, dass diese Person keinen Partner hatte.

Diese Person war ich. Und ich würde mich definitiv bei keinem Schulprojekt beteiligen. Egal mit wem. Die Person, die mit mir in einem Team war, würde das Projekt alleine tragen müssen.

Ah, sie traute sich und machte einen Schritt auf die Lehrerin zu. Sie flüsterte ihr etwas zu, bis die Lehrerin sich wieder an die Klasse richtete. "Wer von euch hat keinen Partner? Es müsste eigentlich aufgehen!"

Das Gemurmel der Klasse wurde immer ruhiger, bis es ganz verstummte. Keiner wollte es wagen, meinen Namen in den Mund zu nehmen. Sie wussten, wozu ich in der Lage war. Die Gerüchte um mich verbreiteten sich schneller, als ein Laubfeuer.

Susan, die beste Freundin von Tiffany - oder besser gesagt, Tiffany's Schatten - brach schließlich das Schweigen. "Ich glaube Eliah hat noch keinen Partner."

Mrs Voyage sah mich mit angehobener Augenbraue an. "Rex? Sie werden mit Roy zusammen arbeiten."

Ich verdrehte die Augen, sagte aber nichts dazu.

"Das ist doch für Sie in Ordnung?", fragte die Lehrerin an die neue Mitschülerin gewandt.

Sie nickte nur schnell, doch natürlich war es für sie alles andere als okay. Ich konnte ihre Angst riechen. Dieses Mädchen war so leicht zu lesen.

Nicht, dass sie eine Wahl hätte. Selbst, wenn sie ein Problem damit hätte - es würde nichts an der Entscheidung von Mrs Voyage ändern können.

Mrs Voyage hatte sogar einen Fetisch dafür, Schüler unglücklich zu machen. Hatte sie einmal damit angefangen, konnte sie nicht aufhören.

"Gut!", rief sie wieder gegen die Klasse an. "Ich seh schon, ihr seid schon im Wochenende. Ihr dürft fünf Minuten eher in die Pause gehen. Nach der Pause möchte ich, dass ihr-"

Doch die Schüler waren schon aus dem Raum gestürmt, als sie die Worte fünf Minuten eher nicht einmal ganz ausgesprochen hatte.

Im Raum blieben nur ich, Voyage und die Neue übrig. Die Neue suchte sich verzweifelt nach einem Sitzplatz um und machte einen großen Fehler. Sie stellte ihren Rucksack auf den freien Stuhl, direkt neben Tiffany's Platz.

Dann suchte sie das Gespräch zur Lehrerin. Ich nahm Marlboroschachtel und Feuerzeug aus meiner Hoodietasche und steckte mir eine Zigarette zwischen meine Lippen. Einfach, um Voyage zu provozieren.

Mit der Zigarette im Mundwinkel ging ich aus dem Raum.








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