„Land in Sicht!", hallt es über das Deck. Liam springt aufgeregt an die Spitze des Schiffes und mit großen Augen lehnt er sich über die Gallionsfigur, um das nähernde Festland zu erspähen. Es ist lange her, dass er die felsigen, trockenen Küsten vor der Festung Tsin gesehen hat. Anders wie in Arion und Lavandria hat das Land noch nie zuvor Schnee gesehen hat. Man nennt die schier endlose Steppe südlich von der Stadt Rast, die trockenen Hänge, was ein ziemlich passender Name für dieses steile Niemandsland ist, dass sich tagtäglich bis ins unermessliche aufheizen kann. Niemand weiß, warum die Familie Fall ihre Festung gerade hierhin gebaut hat. Vielleicht, weil sie hier unabhängig von den anderen Herrschern sind oder weil sie hier kein Heer einfach überrennen kann ohne einen steilen Berg nach oben gewandert zu sein und die singende Hitze in der Steppe davor abbekommen zu haben. Die Festung Tsin befindet sich etwas weiter vom Hafen entfernt auf einem steilen Hügel: Es ist ungefähr ein Tagesmarsch.
„Erkennst du das hier wieder?", reißt ihn eine bekannte Stimme aus den Gedanken. Liam wendet sich an die Brünette, die sich neben ihn an das Gelände lehnt.
„Ja!", antwortet Liam seiner Schwester. Suki blickt mit ihren grauen Augen dem Festland entgegen.
„Wo ist Milan?", fragt Liam nach einer Weile. Nachdem sie Luis und Fabian von Deck gelassen haben, hat Suki Luna überredet ihren Freund an Deck zu lassen. Seitdem hat auch Liam ihn etwas besser kennengelernt, obwohl die letzten fünf Monate nicht unbedingt dazu beigetragen haben, dass er ihm alles verzeiht.
„Hier!", ertönt eine Stimme, während der Junge mit den schwarzen Locken neben Liam tritt. Seine Gestalt ist in den letzten Monaten um einiges schlanker, aber irgendwie auch geschmeidiger geworden. Seine aus schwarzem Leder bestehende Kleidung wirkt wie die Schuppen einer Schlange an seiner Haut. Liam blickt ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
„Luna wird ihn gleich wieder unter Deck in eine Zelle führen.", sagt Suki mit leiser Stimme und ein Anflug von Trauer mischt sich in ihren Blick.
„Es ist nachvollziehbar", sagt Liam barsch, „Wenn wir an dem Hafen anlaufen besteht für ihn die beste Möglichkeit zur Flucht", er wendet seinen Blick wieder ab, während er seine Arme auf die Reling legt und seinen Kopf darauf fallen lässt, um die nähernde Insel zu beobachten. Er vernimmt ein schweres Seufzen neben ihm, doch das ist ihm egal. Er zeigt kein Mitleid für den Sohn des Todes, selbst wenn er anders wie sein Bruder keinen ganz so großen Hass für ihn empfinden kann.
„Hey, Sensenmann!", ruft Luna. Dabei nähert sie sich mit großen Schritten Milan, welcher sie finster anblickt. Ihm gefällt der Spitzname, den sie ihm gegeben hat eindeutig nicht, „Komm jetzt!", befiehlt sie, während sie uninteressiert mit einer ihrer Locken spielt. Suki schlingt noch einmal ihre Arme um den Jungen und Milan gibt ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Danach löst sie sich wieder und der Junge folgt Luna unter Deck des Schiffes. Es überrascht Liam, dass er dieses so Protestfrei tut.
„Wie kannst du so jemanden nur lieben!", fährt Liam irgendwann fort, nachdem Milan und Luna verschwunden sind.
Suki fährt zu ihm herum, „Man kann sich die Liebe nicht aussuchen. Es ist etwas Magisches. Etwas...", fängt sie an, doch Liam unterbricht sie mit einem genervten Würgegeräusch.
„Du bist noch zu jung dafür", antwortet Suki amüsiert.
„Ich bin schon 15. Nur noch ein Jahr, dann bin ich so alt wie zu der Zeit als du auf Milan getroffen hast", wiederspricht Liam, während er seinen Blick weiter gen Horizont gerichtet hält. Plötzlich sticht ihm ein Fleck im Himmel entgegen, der irgendwie immer größer wird. Dann realisiert Liam, dass es etwas ist, dass sich ihnen nähert. Kurz darauf erkennt er eine hellbraune Gestalt mit Flügeln und einem weißen Hals. Die Kreatur hat einen peitschenden, dünnen Schweif und den geschmeidigen Körper eines Löwen. Sein Kopf ist von Federn bedeckt und ein langer, gebogener Schnabel sticht Liam ins Auge.
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Die Drachenlegende - Die Kinder der Leere
Fantasy„Es wird nie wieder wie früher werden!", faucht Milan die zerbrechliche Gestalt vor ihm an. Einige Tränen lösen sich aus den Augen seiner Freundin und rollen über die heißen Wangen. „Es tut mir leid, aber er muss seine Strafe bekommen. Wenn ich es...