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Song: Wovon sollen wir träumen-Frida Gold

Motitz:

Mein Leben ist langweilig.
Es passiert nichts.
Ich stehe morgens auf, frühstücke, mache mich fertig, fahre zur Uni, besuche meine Kurse, gehe einkaufen und fahre nach Hause. Lerne, esse, gucke Filme, gehe ins Bett. Ab und zu treffe ich mich mit Freunden oder besuche meine Familie. Und ich gehe zum Handballtraining. Das ist jede Woche mein Highlight.

Und genau dahin war ich letzte Woche unterwegs, als ich aus der U-Bahn stieg und diesen Jungen sah, der auf einer Bank saß, mit einem Zeichenblock auf dem Schoß und mich ansah. Sein Blick war intensiv, neugierig, verletzt. Er spiegelte irgendwie das Innere von ihm wieder, so komisch das auch klingt, so echt fühlte es sich in dem Moment an. Ich konnte nicht wegsehen, bis ich von dem Menschenstrom hinaus getragen wurde, raus aus der Station und weg von ihm.

Seit dem hat sich irgendwie einiges verändert, denn ich habe gemerkt, dass etwas in meinem Leben fehlt.
Bisher war ich vollkommen zufrieden mit dem, was ich habe, aber nachdem ich letzten Dienstag diesen Jungen getroffen habe, merke ich es. Er hat diese besondere Ausstrahlung, die einen neugierig macht, einen anzieht. Es ist so komisch, ich kann es nicht beschreiben. Ich schätze so einen besonderen Moment hat man nur einmal in seinem ganzen Leben. Es ist, als hätte sich ein Schalter in meinem Kopf umgelegt.

Deswegen will ich ihn wieder sehen. Unbedingt. Will ihn kennenlernen, wissen, wieso sein Blick so verletzt aussah, wieso er mitten am Tag an einer U-Bahnstation sitzt und zeichnet, anstatt zu Hause im warmen Bett zu liegen und Netflix zu schauen.
Aber ich weiß selber, dass es nicht passieren wird, wenn in der Stadt, wo wir wohnen, einige Millionen Menschen leben, und ich die berühmte Nadel im Heuhaufen suchen will, muss.

Heute ist es genau eine Woche her, es ist Dienstag, halb fünf, und ich auf dem Weg zum Training. Irgendwas in mir hofft, den Jungen wieder zu sehen. Dass er wieder da sitzt und die Leute beobachtet, vielleicht macht er das ja immer? Vielleicht ist das sein Hobby? Aber dann hätte er mir ja schon längst auffallen müssen, oder? Zu viele Fragen.

Ich habe die ganze Woche an ihn denken müssen, dabei kenne ich ihn nichtmal.
Normalerweise lese ich in der Bahn immer, aber heute kann ich mich nicht auf mein Buch konzentrieren. Ich kann es nicht abwarten, bis ich endlich meine Station erreiche. Noch fünf, vier.

Als der Zug hält, und ich aussteige, pulsiert mein Herz so stark, dass ich denke, es platzt gleich aus meinem Brustkorb. Ich schaue mich um, aber er ist nicht da.
Ich bleibe stehen, warte, bis der Bahnsteig sich geleert hat. Doch weder auf der Bank, wo er letztes Mal saß, noch woanders ist er zu sehen. Es ist, als würde mich jemand in den Bauch schlagen, als würde ich vor eine unsichtbare Wand laufen. Ich warte einige Minuten bis ich gehe. Dann wird mir endlich klar, dass er nicht hier ist. Ich bin so enttäuscht, dass das Schicksal nicht so wollte wie ich, dass wir uns ein zweites Mal begegnen.

Dabei war es doch klar! Ich hab es vorher gewusst, dass es unmöglich ist, ihn nochmal zu treffen und trotzdem hab ich mir solche Hoffnungen gemacht. Ich war, ich bin so ein Idiot!
Beim Training lasse ich meine Wut raus. Ich bin sauer, auf mich selbst, auf diesen Jungen, dass er nicht da war, dabei kann er ja gar nichts dafür. Wahrscheinlich hat er mich einfach vergessen. Nur ich schaffe das nicht.
Noch nie war ich bei einem Trainingsspiel so gut wie heute, aber ablenken tut es mich trotzdem nicht.

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Nach dem duschen und anziehen warte ich noch einen Moment in der Umkleide, damit meine Haare ein wenig trocken. Draußen ist es ziemlich kalt, und ich will nicht krank werden.
Auch wenn ich mich grade total danach fühle. Am liebsten würde ich mein Kopf in mein Kissen vergraben und mich im Selbstmitleid verkriechen.

Als Letzte verlasse ich die Umkleide, setze mir meine blaue Mütze auf und stecke meine Kopfhörer in die Ohren. Ich stopfe meine Hände in die Jackentaschen und mache mich auf den Weg zur U-Bahn. Es hat angefangen zu schneien. Weiße Wölkchen kommen aus meinem Mund, als ich die Stufen hinunter steige.

Lange muss ich nicht auf meine Bahn warten, ich steige ein, schiebe mich durch den engen Gang, suche mir einen Platz. Aber das Abteil ist so voll, dass ich keinen finde. Karma, denke ich erst, aber dann spüre ich etwas an meinem Rücken. Jemand anderes hat mich gefunden.

Als mir jemand von hinten auf die Schulter tippt, zucke ich vor Schreck zusammen. Ich höre nichts, meine Musik ist zu laut.
Wahrscheinlich irgendwer, der sich an mir vorbei drängeln will, um bei der nächsten Station auszusteigen. Aber ein komisches Gefühl in mir drin sagt mir, dass es was anderes ist. Dass es wer anderes ist.

Und als ich mich umdrehe, sehe ich in die Augen, von denen ich letzte Woche so oft geträumt habe.
Ich kann es nicht fassen, dass wir uns wieder sehen. Dass wir uns ein zweites Mal begegnen, nachdem ich vorhin die Hoffnung aufgegeben hatte.
Ich schaue in ein Gesicht, welches mindestens genauso erstaunt ist, wie meins. Ohne was zu sagen, ziehe ich den Jungen in eine Umarmung. Wir haben uns wieder gefunden, er hat mich gefunden, es ist unglaublich, ein Wunder, ein verdammtes Wunder.
Und ich will und werde ihn nicht wieder gehen lassen.

Mein Herz rast, ich fange an zu weinen. Ist das nur ein Traum oder die Wirklichkeit? Ich kann nicht mehr denken. Mein Verstand hat sich abgeschaltet als ich sah, wer mir da auf die Schulter getippt hat.
Aber es muss die Realität sein, denn ich amte seinen Duft ein und oh, er riecht so unendlich gut. Ob er wohl spürt, wie aufgeregt ich bin?
''Damit hab ich nie im Leben gerechnet.'', flüstert er in mein Ohr, sein warmer Atem fühlt sich wundervoll an.
Jetzt weiß ich, wieso ich vorhin so enttäuscht war, ihn nicht anzutreffen. Weil ich ihn vermisst habe. Und er mich anscheinend auch.

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Ich freue mich über eure Votes und Kommentare :)
Habt eine schöne Woche!

Vincent (boyxboy) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt