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Es ist ein komisches Gefühl, anderen mein Inneres preis zu geben.

Ich fühle mich befreit, weil ich zum ersten Mal über das spreche, was mich die ganze Zeit belastet hat. Andererseits habe ich Angst vor der Reaktion meiner Freunde.

Doch keiner von ihnen sagt etwas. Womöglich hatte ich Recht. Sie verurteilen mich wahrscheinlich dafür.

Mehrere Augenblicke stehen wir umschlungen nebeneinander, bis Naomi die Stille bricht. ,,Wieso hast du nie etwas gesagt? Du weißt wir hätten dir geholfen. Hast du das die ganze Zeit mir dir rumgeschleppt?" drückt sie die Worte aus, die ich am wenigsten erwartet habe.

Ich kann keine klaren Worte fassen. Stattdessen beginne ich wieder zu weinen. Der Schmerz von damals ist wieder da und es fühlt sich an, als wäre er nie weg gewesen. Vielleicht war er die ganze Zeit über vorhanden und ich hatte ihn nur verdrängt, um darüber hinwegzukommen, was scheinbar erfolglos war. Habe ich daher so oft an Nadir gedacht?

,,Ich weiß es nicht." gebe ich erstickt zu. ,,Ich habe gedacht, ihr würdet mir verurteilen und als Schlampe bezeichnen." Meine Stimme ist sehr leise, aber die Personen um mich herum scheinen mich verstanden zu haben.

Naomi widerspricht mir sofort. ,,Du wurdest vergewaltigt! Wieso sollten wir dich dafür beleidigen?"

Ich zucke mit den Schultern, denn der Kloß in meinem Hals hindert mich am Sprechen. Um ehrlich zu sein kann ich es mir selber nicht erklären. Ich denke, ich habe mir selbst die Schuld gegeben, für das, was Nadir mir angetan hat.

,,Wir werden dir helfen, Rania." höre ich Shawns Stimme. Von Lucas ist nur ein zustimmendes Summen zu hören.

Diese kleinen Worte reichen, um mich erneuert zum Weinen zu bringen.

Ich habe ernsthaft gedacht, meine Freunde würden mich für das, was mir zugestoßen ist, hassen. Und ich bin erleichtert, dass es nicht so ist.

Mehrere Minuten stehen wir noch so da, bis Naomi und Lucas ihre Körper von mir lösen. Shawn macht jedoch keine Anstalten, sich zu entfernen. Sogar im Gegenteil, er zieht mich noch fester an sich.

,,Ich lasse nicht zu, dass dir jemand etwas tut." flüstert er mir ins Ohr, so dass nur ich ihn verstehe. Sein heißer Atem an meinem Ohr verpasst mir eine Gänsehaut.

Etwas später sitzen wir alle am Küchentisch und schneiden Gemüse für einen Kartoffelauflauf in Würfel. Wir haben beschlossen, zu Ablenkung etwas gemeinsam zu kochen. Das Thema Nadir ist seit einer halben Stunde nicht mehr gefallen, aber immer wieder erwische ich meine Freunde dabei, wie sie mitleidig zu mir herüber schauen. Ich fühle mich unwohl, aber ich kann verstehen, dass sie sich Sorgen machen. Immerhin habe ich ihnen heute ziemlich viel erzählt.

Ich strecke meine Hand aus, um nach einer Kartoffel zu greifen. Scheinbar wollte Shawn nach auch nach ihr greifen, denn unsere Finger berühren sich, als ich nach der Kartoffel greife, an der sich seine Hand befindet.

Sofort, wie als hätte ich mich verbrannt, ziehe ich meine Hand zurück und schaue in die entgegengesetzte Richtung, um mein Gesicht, dass gerade rot anläuft, zu verbergen. Ich spüre den Blick des Braunhaarigen, der neben mir steht, und ignoriere sie in der Hoffnung, dass er gleich wegblickt.

Einige Augenblicke später sehe ich wieder zum Tisch und erkenne aus dem Augenwinkel, dass Shawn mich nicht mehr ansieht.

Das war peinlich.

Ein Blick zu Naomi und Lucas sagt mir, dass sie von dem eben nichts bekommen haben, oder es ignorieren.

Also greife ich nach einer anderen Kartoffel und beginne diese, immer noch mit warmen Wangen, zu schneiden.

,,Wir tun aber keine Tomaten rein, oder?" fragt Shawn mit großen Augen.

,,Doch." antworten Naomi und ich synchron, weshalb wir lachen.

Angewidert verzieht Shawn das Gesicht, als wären Tomaten das ekelhafteste auf dieser Welt.

,,Ich hasse Tomaten! Können wir dann einen Teil ohne Tomaten lassen?" fragt der Kanadier erwartungsvoll.

,,Aber nur, weil du es bist." erwidere ich. Mein Blick trifft dabei den vom Jungen neben mir.

Wie vorhin schon, saugen mich seine braunen Augen auf. Ohne zu blinzeln starren wir uns gegenseitig an. Wie kann ein Mensch so schöne Augen besitzen?

Der Wunsch, Shawn zu küssen, macht sich in mir bemerkbar.

Lucas' plötzliches Räuspern lässt uns unseren Blickkontakt unterbrechen. ,,Könntet ihr aufhören euch gegenseitig anzustarren und weiter schneiden? Ich möchte heute noch essen." gibt dieser kalt von sich.

Was ist plötzlich mit ihm los? Ich schaue zu Naomi rüber, die nur die Stirn runzelt, genauso wie Shawn. Das Verhalten des Blonden verwirrt die beiden wohl genauso wie mich.

Nachdem wir den Auflauf vorbereitet und in den vorgeheizten Ofen geschoben haben, setzen wir uns an den Küchentisch, ich neben Shawn, und starren Löcher in die Luft. Jeder geht seinen eigenen Gedanken nach. Also nutze ich die Zeit, um über Shawn nachzudenken.

Ist es möglich, sich jemandem, den man kaum kennt, hingezogen zu fühlen? Ich kenne ihn nicht einmal einen Monat, aber ich vertraue ihm Dinge an, die ich niemandem zuvor erzählt hatte. Und entgegen aller meiner Erwartungen haben ihn diese nicht abgeschreckt. Er hat mir sogar versprochen, bei mir zu bleiben.

Naomis Stimme holt mich etwas später aus meinen Gedanken. ,,Rania, ich habe etwas über das nachgedacht, was du uns erzählt hast. Du hast gesagt, dein" sie stoppt kurz. ,,Dein Mann kommt nach Toronto. Woher weißt du das?" fährt sie ihren Satz fort.

Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie sich Shawn neben mir verkrampft. So hat er auch vorhin schon reagiert, als ich gebeichtet habe, dass ich verheiratet bin.

,,Er hat mir Briefe geschrieben. Einige von seinen Komplizen haben sie mir in den Briefkasten geworfen oder vor der Haustür abgelegt." berichtet ich. Dabei meide ich es, Nadirs Namen auszusprechen.

,,Du weißt aber nicht, wer ihm geholfen habe könnte?" ertönt Naomis Stimme zögerlich. Vermutlich ist sie sich unsicher, wie viel sie über das Thema erfragen soll.

Darüber habe ich bereits nachgedacht. Mir fällt aber keine Person ein, die Kontakt zu Nadir haben könnte. Meine Schwester könnte zwar gelogen haben und immer noch Kontakt zu meinen Eltern haben, aber das traue ich ihr nicht zu. Ich schüttele den Kopf, woraufhin Naomi wortlos nickt.

,,Wenn er wirklich weiß, wo du wohnst, wäre es besser wenn du vorübergehend ausziehst. Du kannst bei mir schlafen." bietet sie mir an.

Sie hat Recht. Es wäre viel zu gefährlich länger hier zu bleiben, es sei denn ich möchte, dass Nadir mich findet.

,,Und das macht dir sicher nichts aus?" frage ich meine beste Freundin.

Sie schüttelt hastig den Kopf. ,,Pack am besten jetzt schon deine Sachen, ich kümmere mich um den Auflauf." spricht sie.

Daher stehe ich auf und gehe in mein Schlafzimmer. Dort hole ich meinen grauen Koffer vom Schrank runter und beginne alles Nötige einzupacken.

Wenige Minuten später, als ich gerade dabei bin einige Hosen zu verstauen, klopft es an der Zimmertür.

,,Ja?" rufe ich.

Die Tür öffnet sich und ein brauner Haarschopf tritt hervor. Shawn tritt ein und schließt die Tür hinter sich.

,,Rania, ich weiß es ist gerade nicht der richtige Zeitpunkt, aber wir müssen reden. Es kann nicht länger warten." sagt er.

Was ist wohl das Wichtige, das Shawn ihr sagen muss?

Patience [S.M. Fan-Fiction]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt