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Den Dienstag nahm ich bis zur 3. Stunde nicht wirklich war. In der Deutscharbeit schrieb ich auf, was ich mir aus den Stunden gemerkt hatte um wenigsten ein paar Punkte zu bekommen. Ich konnte mich nicht konzentrieren und Sie war schuld daran.

Wie abgemacht wartete ich vor dem Lager auf sie. Ich war aufgeregt. Mein Puls stieg ins unermessliche, um so länger ich wie angewurzelt vor der schweren Tür stand, die in dunklem Orange gestrichen war.
Ich sah gefühlt alle 10 Sekunden zum Treppenaufgang. Mit etwa 10 Minuten Verspätung kam sie dann die Treppe herunter geeilt, ihre Aktentasche in der linken Hand und ihren Schlüssel in der rechten.
Sie bemerkte mich erst, als sie auf sah. In Gedanken vertieft erschrak sie leicht, als sie beinah in mich rein lief, da ich nicht fähig war auszuweichen. Ihr Anblick riss mich aus der Trance und ich begann wie ein Volldepp zu grinsen. "Huch. Da bist du ja." Sie schlängelte sich an mir vorbei und schloss das Lager auf, ohne mir weitere Beachtung zu schenken. Ich sah ihr dabei zu, wie sie eine Kiste mit Stoffen von einem Stuhl räumte und ihre sichtlich schwere Tasche darauf platzierte. Dann drehte sie sich mit ihren Armen in die Hüfte gestemmt um. Sie sah umwerfend aus. Ihr blonder Bob hatte wieder etwas Überlänge bekommen und sie trug einen hellgrauen Pulli über einem dünnen hellblauen Hemd. Ihre Schuhe mit durchgehendem Absatz machten sie etwas größer als mich. Und mit ihrer heute schwarzen schmaleren Brille, die offensichtlich älter war, sah sie mehr wie Anfang 40 aus als sonst.
"Neue Brille?" Fragte ich und bereute es sofort. Sie sah mich verwundert an, nahm ihre Brille ab und betrachtete sie "Nein. Eigentlich nicht " Sie sah mich wieder an und zum ersten Mal konnte ich ihre Sommersprossen erkennen, die sonst ohne Aufmerksamkeit blieben. Ihre Brille stand ihr, aber ohne wirkte sie deutlich jünger.
"Das ist meine alte." Sie wirkte verlegen. "Ich hab die andere heute morgen nicht gefunden. Also. Wollen wir?" Und wie das ändern des TV Senders war sie wieder im streng-sein-Modus. Ich löste mich aus meiner Starre "Äm ja. Ja ok." Ich krämpelte die Ärmel hoch und sprang regelrecht in den großen Materialhaufen. Alles was ich wollte war darin zu versinken.

Wir arbeiteten uns innerhalb der ersten 30 Minuten durch 2/3 des Berges und fanden so einiges. Unter anderem alte Arbeiten von Schülern, die seit mehreren Jahren nicht mehr hier zur Schule gingen, kaputte Spielhäuser und falsch bedruckte Tshirts. "Wer wollte die denn anziehen. Die haben Rechtschreibfehler und .... sind XXL!" Ich schüttelte den Kopf und zog mir prompt eins über. Sie erhob sich von ihrem selbstgebauten Hocker aus Stoffresten und begann herzhaft zu lachen. Ihr Lachen war wunderschön. "Das steht dir. Solltest du öfters tragen! Hast du noch eins." Ich warf ihr ein hellblaues zu, während ich ein weißes mit der Aufschrift "Systemfehler" mit h nach dem t trug. Es überraschte mich sehr, als sie es sich überstreifte. Ihre Brille verrutschte leicht und ihre Haare verwuschelten. Ich versuchte das aufkeimende Gefühl in meinem Bauch zu ignorieren. Ohne wirklich darüber nachzudenken stieg ich über einen Teil des Aussortierten und richtete sie ihr. Überrascht von meinen Tatendrang wich sie kurz zurück, ließ sie mich aber zurecht rücken. "Oh entschuldigen sie." Sagte ich in der Hoffnung sie würde mir keinen ihrer Bekannten bösen Blicke zuwerfen, was sie auch nicht tat. "Danke." Wir standen keine 15 cm von einander entfernt. Ich merkte ihre Atmung und sah, wie sich ihr Brustkorb hob und sank. Es mussten nur wenige Sekunden gewesen sein, die wir so da standen, bevor sie wie von einer Biene gestochen rum fuhr und wieder begann Material zu sortieren. Es war ihr unangenehm, dass merkte ich, oder zumindest hoffte ich das.

Pünktlich zum Klingelzeichen waren wir fertig. Wir hatten nicht mehr viel geredet. Nur noch über belangloses. Zumindest hatte ich zwischen alten Folien über Baustruktur meine Zeichnungen gefunden und war dementsprechend froh es nicht nochmal machen zu müssen. "Das wars. So aufgeräumt war der Raum seit 10 Jahren nicht." Sie wirkte sichtlich erleichtert, als sie ihr überdimensionales Tshirt auszog und es zu den andere auf die Kleiderstange, die ich unprofessionell provisorisch zusammengebaut hatte, legte. "Das war ein Aufwand. Oh man. Nochmal will ich das nicht machen." Ich setzte mich auf den Stuhl zu ihrer Tasche. "Ich auch nicht unbedingt." Sie sah auf die Uhr. "Oh Gott." "Danke, Charlie reicht vollkommen aus." Sie sah überrascht zu mir. Ich lächelte, war aber auch ziemlich fertig von der Aktion. "Ich hab noch ein Schülergespräch in 3 Minuten." "Viel Spaß. " sagte ich mit einem ironischen Unterton, der sie die Augenbrauen heben ließ. "Mh." Sie nahm ihre Tasche vom Stuhl hinter mir, bedankte sich noch einmal und wünschte mir einen angenehmen Tag, bevor sie hektisch die Treppe hinauf ging und mich komplett überrumpelt vor der orangenen Tür stehen ließ.

Etwa 12s später und nachdem Lena geschrieben hatte, dass wir für Physik bloß Aufgaben bekommen hatten, da unser Lehrer kurzfristig krank machte, entschloss ich mich mit ihr heim zu fahren. Die Aufgaben gab es ja auch online oder von wem, der sie sich geholt hatte.

Gerade am Auto angekommen, deutete Lena hinter mich. "Dreh dich mal um. Ich glaub die Jansen will was von dir." Frau Jansen kam in der Tat schnurstracks auf mich zu geeilt. "Charlotte! Warte nochmal kurz!" Ich ging ein paar Schritte auf sie zu. "Ich wollte dich doch noch etwas fragen." Ich nickte. "Also gut. Ich komm gleich zur Sache. Ich will dich nicht weiter aufhalten. Gibst du noch Nachhilfe?" Ich sah sie perplex an. Seit letztem Jahr hatte ich mich dazu bereit erklärt einzelnen Schülern gegen Bezahlung, sowohl in der Schule als auch privat, Nachhilfe in Mathe, Physik und Geographie bzw. Erdkunde zu geben. Ich hatte das einmal beiläufig erwähnt und war nun überrascht darüber, dass sie mir anscheinend wirklich zugehört hatte. "Ja, schon. Brauchen sie welche?" Sie lächelte verlegen. "Ich nicht. Aber meine Tochter. Mathe war nie ihre Stärke und momentan ist sie schlechter als sie sein sollte." Irgendwie schien sie verzweifelt. "Also momentan hab ich keinen Schüler. Also wäre mir entweder Dienstag oder Freitag recht. Passt ihr das?" Sie lächelte zufriedenstellend. "Freitag. Dienstag hat sie Tanztraining. Was hältst du von 16 uhr?" "Also ich hab 14 30 Schluss freitags. Wenn sie mir sagen, wo ich hin muss dürfte 16 uhr klappen." Sie machte einen erleichterten Eindruck und sah dabei umwerfend aus. "Oh das is ja super. Ich schreib dir nochmal eine email ok?" Ich war damit einverstanden. Sie verabschiedete sich erneut und ich stieg mit Herzklopfen bis zum Hals und zittrigen Händen in Lenas Auto.
"Die sah ja angespannt aus. Haste was verbrochen?" Ich schüttelte belustigt über ihre Annahme den Kopf. "Anscheinend hab ich gerade zu gestimmt ihrer Tochter Nachhilfe zu geben." Sie rollte mit den Augen. "Du musst dich auch ständig bei anderen einmischen oder?" Fragte sie vorwurfsvoll. "Ach nee. Keine Ahnung woher sie das weiß." Zum Glück wechselte Lena dann auch gleich das Thema auf ihren Boyfriend. Beziehungsstress is schon kacke.

Am selben Nachmittag suchte ich dann nach meinen Aufzeichnungen. Mittlerweile wusste ich, wie man das mit neuen Nachhilfeschülern am besten regelte. Später ging ich zum Kaffee trinken zu meiner Tante. Sie war die erste und einzige die wusste, wie ich dachte, die mich verstand und meine Gedanken lesen konnte. Bei ihr fühlte ich mich wohl. Strenggenommen war sie auch nur meine Großtante. Meine Oma und sie waren Schwestern und beide waren über 70, was man vor allem meiner Tante, obwohl sie die ältere war, nicht ansah. Mitten in unserem Gespräch über den pariser Stadtverkehr bekam ich eine Email. Mit zittrigen Händen öffnete ich sie und musste mich im nächsten Augenblick zusammenreißen, um nicht mit der Hand auf die Tischplatte zu schlagen. Sie war von ihr. Darin beschrieb sie kurz welches Themengebiet ich mit ihrer Tochter Louisa besprechen sollte. Es waren Gleichungen und Gleichungssysteme aller Art, also genau das, was ich in 80% der Mathenachhilfe mit meinen Schülern besprach. Im Anhang hatte sie ganz professionell eine Route von Google Maps angehangen. Aber vor allem das "Mit freundlichen Grüßen, E. Jansen" erweichte mir das Herz. Ich las die Email ungelogen 15 mal, bevor mich meine Tante mit: "Schreibt dein Freund?" Aus meinen Gedanken riss. Ich rollte mit den Augen "Nee, so jemanden brauch ich gerade nicht. Abschluss ist wichtiger." Ich kam also mit der üblichen Floskel. Das schien sie aber zu beruhigen und sie wechselte wieder auf Urlaubstipps.

In der folgenden Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich lag wach und wälzte mich von der einen zur anderen Seite meines großen gemütlichen Bettes. Sie und die Art wie sie lächelte waren in meinem Kopf. Ich stellte mir alle möglichen Szenarien vor. Wie sie Kaffee kochte in einem modernen Schlafanzug, wie sie in ihrem ordentlichen Arbeitszimmer Arbeiten korrigierte oder wie sie sonnenbadete in ihrem großen grünen Garten mit Zierpflanzen. Irgendwann fing ich dann rein aus Verzweiflung an, die Physikaufgaben für Donnerstag zu machen. Ich brauchte Schlaf und nichts war ermüdender als irgendwelche sinnlosen Hausaufgaben. Nach Aufgabe 2 war ich dann aber tatsächlich so müde, dass ich mit Büchern im Bett gegen 2 Uhr 30 endlich in einen, leider, traumlosen Schlaf fiel.

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