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Nachdem ich spät nach Hause gekommen war, fuhr ich am nächsten Morgen zum Arzt, holte mir eine Krankschreibung und ließ meine Oma in der Schule anrufen.
Ich war nicht fähig mich zu konzentrieren. Der Abend hatte mich im wahrsten Sinne des Wortes taub gemacht. Alles was ich sehen, riechen oder fühlen wollte, war sie. Ihr Lachen zu hören gab mir den nötigen Sauerstoff, den ich jetzt gut gebrauchen konnte, denn ich lag wie ein Seestern ausgestreckt auf unseren kalten Fliesenboden im Wohnzimmer und lauschte meinem harten schnellen Herzschlag.

Im Kopf ließ ich alles Geschehene noch einmal Revue passieren. Ich ging jedes kleinste Detail nochmal und nochmal durch, versuchte jede Sekunde genau zu analysieren, denn ich wusste, würde ich ihr wieder begegnen, egal wo, ob in der Schule oder bei ihr zu Hause zum Lernen mit Lou, sie würde mich mit anderen Augen sehen.
Nach einer geschlagenen halben Stunde taten mir sämtliche Knochen weh und ich brachte mich dazu aufzustehen und am Esstisch vorbei Richtung Kaffeemaschine zu laufen.
Wenn irgendwas gegen einen müden Kopf half, dann war das Kaffee.
Ich versuchte meine Gedanken von ihr loszureißen und mich auf das summend Geräusch der Maschine zu konzentrieren. Das gelang mir aber nur teilweise, denn in meinen Adern kochte noch immer die Lust nach ihr.
Meine Augen brannten. Zum einen, weil der heiße Dampf mir in die Augen stieg und zum anderen, weil ich den Tränen näher war, als einem zaghaften Lächeln.
Die Außenwelt begann immer mehr unwichtig zu werden und mein Innerstes rebellierte gegen sich selbst. Der Kuss hatte mir so viel gegeben aber auch so viel genommen. Ich hatte damit jede offizielle und inoffizielle Regel gebrochen und mein Recht missbraucht, bei ihr zu sein oder mit ihr zu reden.
Wir hatten nun Geschichte und irgendwie waren unsere Leben, wenn auch nur für einen Moment, miteinander verstrickt und dieses kleine Detail war nicht mehr zu ändern und hatte sich für immer, zumindest schon mal in mein Gehirn, eingebrannt. Unwiderruflich.

Ich nahm die Tasse Kaffee, schlich die Treppe hinauf und schmiss mich in mein Bett. In meinem Kopf war Chaos und in meinem Herzen Sturm.
Und in genau diesem Zustand, entschwand ich gegen Mittag nochmals für ein paar Minuten in mein selbst erschaffenes Delirium.

Donnerstag darauf kaufte mir meine Mutter meine "Krankheit" nicht mehr ab. Sie fuhr mich persönlich zur Schule, da Lena immernoch mit der Krippe zu kämpfen hatte. Mit gefühlt 40 Fieber betrat ich das Gebäude. Ich hatte Donnerstags zwar keine Gestaltung, aber trotzdem wollte ich sie nicht sehen. Nichtmal auf dem Gang. Nirgends, denn ich war mir wirklich nicht mehr sicher, wie ich reagieren würde. Wahrscheinlich würde ich sie ausdruckslos anstarren oder in Rage verfallen, sie anschreien und auffordern mir endlich zu verraten, warum sie mich angerufen hatte, was sie dazu gebracht hatte mich in ihrem Zustand aus, wahrscheinlich, Rotwein und Verzweiflung mit dem Handy ihrer Tochter anzurufen, das die bestimmt auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte. Und vor allem warum sie zugelassen hatte, dass ich meiner inneren Schwäche nachkam und sie geküsst hatte. Irgendwie gab ich ihr die Schuld an meinem Regelbruch.
Die letzten Tage waren die reine Hölle für mich und ja, ich hoffte innerlich für sie auch. Obwohl das wahrscheinlich eher ein Hirngespinst meinerseits war, heftete ich allen Glauben daran, denn ich hätte ohne nicht wirklich weiter an die Existenz von Gefühl oder Verlangen, von Liebe reden wir erst gar nicht, überhaupt glauben können.

Ich ging schnurstracks, ohne einen Blick in Richtung Nebengebäudeeingang zu werfen, zu Johanna, Leonie und Tanya. Sie saßen an einem der vielen Tische in der Mitte und machten noch schnell Hausaufgaben.
"Hey, people." Ich lies mich auf dem freien Stuhl nieder. "Hey." Sagten sie alle im Chor. " Gehts dir wieder besser? Du siehst noch immer irgendwie krank und ausgelaugt aus." Setzte Leonie noch hinzu. "Ich bin auch ausgelaugt. Und richtig Bock auf Heute und vor allem morgen hab ich auch nicht. Ich will wieder in mein Bett." Mit einem flehenden Gesichtsausdruck ließ ich meinen Kopf auf die Tischplatte sinken. "Ja, ich auch nicht. Aber hey sieh es positiv." Sagte Johanna "Wir sind mit unserem Haus fast fertig und in 2 Wochen sind Herbstferien. Dann is erstmal Ruhe." Herbstferien. Ich hatte nicht daran gedacht, seit ich bei Liz ein und aus ging. "Stimmt" meine Miene erhellte sich. "Hab ich komplett verpeilt. 2 Wochen, sagst du? Maaaan geil. Ich brauch das echt." Mit dem ersten Grinsen seit Tagen lehnte ich mich zurück. Endlich würde ich eine Pause bekommen und vor allem Abstand. Das, was gerade passierte, war so gar nicht gut für meinen sonst so gechillten Gemütszustand. Ich wusste einfach nicht mehr wo mir der Kopf stand. Zum einen wollte ich sie mehr als Sauerstoff zum Atmen, zum anderen wollte ich sie aber nie wiedersehen, weil das, was geschehen war, mir nicht nur ein Loch in mein Herz gerissen hatte, sondern auch noch mehr als verboten war und ich wollte weder für mein Aufgeben am Leben noch für ihre Kündigung verantwortlich sein. Hinzu kam noch, dass es ihr ja anscheinend nicht wirklich viel ausgemacht hatte, sie wirkte nach dem Kuss kalt und abweisend wie immer. Ich hatte beinah ein "Huch, das darf aber nicht mehr vorkommen. Wir dürfen das nicht." Von ihr in meinen Gedanken gehört. Aber das kam nicht. Mehr ging sie einfach zum Fenster und verfiel ihren eigenen Sinnen nach Mann und Kindern. Ich war echt wütend auf sie und auch auf mich. Wie konnte ich nur so dumm sein?

Mit dem Klingeln begann ein langweiliger 8 Stunden Tag mit Wirtschaft, Deutsch, Ethik und Russisch, der auch sonst eher keine neuen Erkenntnisse brachte, sondern mehr neue Gründe zum aus dem Fenster springen. Aber etwas Gutes hatte es. Während Leonie mit Frau Beißer über philosophische Ansätze in Ethik diskutierte, konnte ich meine Hausaufgaben für Russisch in der nächsten Stunde machen und ein paar Aufzeichnungen vervollständigen, die ich für Mathe am Freitag benötigte.

Ich fuhr mit dem 14:35 Bus und kam mit Migräne 35 Minuten später zu Hause an. Es war niemand da, also schmiss ich mich auf die Couch und begann Netflix nach was Brauchbarem zu durchforsten. Sonst schlief ich immer, wenn ich Miräne hatte, aber mir war nicht danach. Schlussendlich entschied ich mich aber eine von Mamas alten DVDs anzuschauen: "Mord im Orientexpress" von 1974. Ein Klassiker und mit grandioser Starbestzung. Sean Connery neben Ingrid Bergmann, einer blutjungen Jaqueline Bisset und einer Göttin gleichkommenden Lauren Bacall. Ich liebte Hercule Poirot und seine Mordfälle.
Während die ellenlange Anfangseinblendung abspielte, begann ich mir Essen zu machen. Hänchen-Curry.

Seit dem Trubel im Bus hatte ich nicht mehr an Liz denken müssen, doch wie ich so in meiner aufkochenden Kokusmilch herrumrührte, war sie auf einmal wieder da.
Ich war immer noch wütend und ich wollte sie immernoch erstmal nicht mehr sehen, aber in dem Moment vor der heißen Herdplatte, war sie eher eine Illusion in meinem Kopf, als jemand der real schien und für einen kurzen Moment, hinterfragte ich den aufwühlenden Abend.
War es real?
Alles schien sich auf einmal in meinem Kopf um sie zu drehen.
Momente ploppten auf, die ich vorher nicht als wichtig empfand. Zum Beispiel das eine Mal, es war vllt 5 oder 6 Monate her, in dem wir Dachformen und -strukturen besprachen und wir am Ende in eine kleine Diskussion verfielen, welches Dach Johannas Wohnhaus hatte. Sie war äußerst gut gelaunt gewesen und hatte mit Spaß und Freude an diesem vergangenen Frühlingstag mit uns argumentiert. Sie trug eine moderne drahtige schwarze Brille, eine bordeauxfarbene Bluse passend zu einer eng anliegende grauen Jeans und ziemlich hohe Schuhe. Sie sah mit ihrem kleinen Zopf und dem Pony aus, wie aus einer Modezeitschrift und das, was sie trug, stand ihr. Es war das erste Mal seit Wochen, dass sie für mich wieder so anziehend aber auch so weit weg schien. Unantastbar halt. So wie es eigentlich auch sein sollte. Nicht wie jetzt. So leer, so neu, so beschissen frustrierend und vor allem so wollend, verlangend nach ... ihr.

Nachdem alles gekocht war und Hercule Poirot schon erste Verdächtige befragte, setzte ich mich mit einem Tablett auf den Boden und begann mein Curry zu essen.
Doch ich konnte dem Geschehen auf dem Bildschirm nicht recht folgen. Stattdessen, sah ich immer wieder auf mein Handy, suchte nach dem Chat mit Lou oder durchforstete meine Emails.
Nur ein geschriebenes Wort von ihr oder ihren Namen zu lesen ließ mein Herz in Flammen aufgehen. Sie wurde immer mehr der einzig wichtige Gedanke in meinem Kopf und ich selbst immer schwächer eben diesem Gedanken auszuweichen.
Ihr Bild hatte sich in meine Hirnrinde eingebrannt. Ich wusste, ich konnte sie nicht haben, doch mir verlangte es nach ihr. Alles in mir wollte sie. Jede Faßer meines Körpers. Ihre Berührung, ihr Geruch, ihr Lachen.
War ich besessen? Womöglich.

Und mit dem Gang zum Fenster, um verloren in die Kälte des davor verweilenden Feldes zu starren, wurde es mir langsam quälend bewusst, in was ich mich gerade dabei war hineinzusteigern: dem anfänglichem Verlangen nach ihr, war unbewusst die Neugier auf mehr gewichen. Und im selben Moment in dem ich auf die Knie sank und meine Hände vors Gesicht legte, nuschelte ich genau das in die Stille, von dem ich gedacht und gehofft hatte, es nie und nimmer aussprechen zu müssen. "Shit, ich liebe sie."

Ihr Weg zu DirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt