19

1.9K 89 4
                                    

Die Parkanlage war an diesem Donnerstagnachmittag im Oktober gut besucht. Hier und da saß mal wer auf einer Bank oder lief an uns vorbei. Oft waren es ältere Herrschaften, die wahrscheinlich zu Kurbesuchen in der Kleinstadt waren oder aber Mütter mit Kindern, die den Nachmittag mit Parkspaziergängen verbrachten.
Wir hatten den äußersten Weg eingeschlagen. Er war geteert und ihn flankieren beidseitig gut gepflegte Rasenflächen, die zuweilen mit, in Mustern angepflanzten Hecken, dekoriert waren. Im Frühjahr und Sommer war dieser Park immer eine Augenweide. Überall blühte es und roch nach Natur und Viele kamen, um sich die Wasserspiele im Zentrum anzusehen, am See zu sitzen, Eis zu essen oder Schach zu spielen.
Das letzte Jahr über war ich selten hier gewesen, da ich viel mit Tanya unternommen hatte und es uns eher in die Ferne zog, als beinah vor die Haustür.

Wir gingen in einem angenehmen Tempo nebeneinander her. Der Wind hatte sich etwas gelegt und umspielte eher die Äste an den oberen Enden der Bäume, als uns. Er hatte, seit wir den Park betreten hatten, noch nichts gesagt. Aber das Denken stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben, während ich nichts sagte, weil ich nicht wusste wie. Über seiner aussagekräftigen Freundlichkeit, die stets mit ihm mit schwang, hing schon den ganzen Nachmittag eine Theatralik, die mir mein Herz zusammenzog. Ich wurde den Gedanken nicht los, den größten Fehler meines Lebens zu begehen, wenn ich weiter in seiner Ehe rumfuschen würde.
Ich musste etwas tun. Also blieb ich stehen und sah ihn an. Er tat noch 2 Schritte, bevor er merkte, dass ich nicht mehr folgte und drehte sich verwundert zu mir um. "Bitte, Ronnie, rede mit mir. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich .... ich weiß nicht, was ich mache. Ich fühle mich wie in Treibsand gefangen und ich... ich hab keine Ahnung, was ich gerade für scheise verbrocke." Ich sah ihn flehend an. Tränen stiegen mir in die Augen und verwischten seine Silhouette. Er machte leicht einen Schritt auf mich zu und legte vorsichtig seine rechte Hand auf meine linke Schulter. Brüchig sprach ich weiter. "Du wolltest dich mit mir treffen. Was willst du damit bezwecken. Wie lang brauchst du, um mir zu sagen, dass ich aus eurem Leben endlich wieder verschwinden soll?" Deutlich, aber doch ungewollt, schwang Zorn in meiner Stimme mit. Dieser war aber gegen niemanden außer mich selbst gerichtet. In Sekunden füllten sich meine Augen erneut mit Tränen, doch ich würde nicht weinen. Nein.
Er nahm seine Hand von meiner Schulter und steckte sie wieder in seine Manteltasche. Sein Blick ruhte aber weiter auf mir."Charlie, ich wollte mich mit dir treffen, weil..." Er stockte leicht. "...weil ich wissen will, wer du bist und was dich so besonders macht, dass sie bei dir wieder is wie früher. Voller Energie und Ausgeglichenheit." Er sah mich bedrückt an. Seine Stimme war dennoch klar und konzentriert, während ich wie festgefroren dastand und benebelt in die Ferne starrte.

Meine Gedanken rissen mich in eine Art Tunnel. Nur am Rande meiner Wahrnehmung hörte ich ihn weiter sprechen. "Wenn du da bist scheint sie es zu genießen mit dir über Dinge zu reden, von denen ich nicht mal wusste, dass sie sie interessieren. Sie lacht voller Euphorie, auch wenn du gegangen bist. Das hat sie ewig nicht gemacht. Ich kenne Elisabeth. Zumindest dachte ich das." Den letzte Satz sprach er mehr zu sich als zu mir. Dennoch ließ er in meinem Kopf alle Alarmglocken schrillen und binnen Sekunden war ich wieder Herr des Szenarios. Ich sah zu ihm. Nun war er es, der seinen Kopf leicht weggedreht hatte und dessen Blick starr auf den Boden gerichtet war, als suche er den richtigen Weg oder die richtigen Worte.
Ich trat in sein Blickfeld.
"Natürlich tust du das! Du kennst sie doch am Besten. Du liebst sie und sie liebt dich. Ohne Zweifel. Das hat sie mir gesagt. Und ich weiß, dass es stimmt, weil ich es gefühlt habe." Die Worte laut auszusprechen schmerzte mehr, als ich gedacht hatte. Sie liebte ihn und er sie. Und ich? War ich dabei es zu zerstören, wenn ich zuließ, was mein Innerstes fühlte, wollte?
Er schien meine Worte im Kopf nochmals durchzugehen. Dann antwortete er mit Bedacht. "Warum, Charlie, kommt mir dann alles so unglaublich weit entfernt vor. So als ob wir die letzten 20 Jahre damit verbracht hätten Mauern aufzubauen anstatt aneinander, nein, miteinander zu wachsen." Er atmete einmal merkbar. "Ich muss seit ein paar Wochen immer wieder darüber nachdenken, wie wir uns verändert haben. Und ich meine nicht nur äußerlich." Jetzt lachte er zaghaft in den so intensiven Moment hinein, dass es mir mehr wie eine Illusion vorkam, als das richtige Leben. "Wir haben früher wahnsinnig viel gemacht, sind gereist, waren spontan. Aber diese.... Spontanität ist mit der Zeit einem gleichmäßigen Rhythmus gewichen, den ich irgendwie lange nicht so klar wahrgenommen habe, wie jetzt." er rieb sich die Hände.
Dann sah er mich erneut ernst an. "Sie ist ruhiger, gelassener, seit du vorbei kommst. Selbst Louisa ist das aufgefallen. Sie hat mich gefragt, seit wann ihre Mutter Musik zum kochen hört und weniger gestresst ist, wenn sie nach Hause kommt. Charlie....
Ich konnte es ihr nicht beantworten und...." Jetzt zuckte er, mit den Schultern. "...das macht mir tatsächlich Angst. Angst vor dem, was ich nicht kommen sehe, was ich nie kommen gesehen habe und..." Jetzt wurde er merkbar traurig. "... somit auch Angst vor dir." Ich schluckte.
Angst vor mir. Vor mir! Ich wollte lachend den Kopf schütteln, doch in der letzten Sekunde hielt ich mich zurück. War seine Angst berechtigt?
Ich wusste, wie ich sein konnte, wenn ich fühlte, tief fühlte: Emotional, gedankenverloren und bereit alles aufzugeben, was mir mal etwas bedeutet hatte, aber immer in einem humanen Maß. Nie würde ich jemanden verletzen können, weder im richtigen Sinn, noch emotional. Ich wusste stets, wann es Zeit war, den Hut zu ziehen und 'C'est la vie' zu sagen. Aber irgendwie war ich mir auf einmal nicht mehr sicher, ob ich nicht irgendwann auch den Drang verspüren würde, mir das zu nehmen, was ich wollte, wen ich wollte. Und jetzt gerade wollte ich nur wenige Dinge mehr, als Liz an einem schönen Sonntagmorgen im Frühsommer mit heißem Kaffee und den Gedanken im Himmel bei den Wolken.
Ich sah ihm in die Augen. Er fühlte den Moment tief, ich spürte das. In mir entflammte die Erkenntnis, dass wir uns in vielen Dingen ähnlich waren. Wir sorgten uns, redeten über wichtige Dinge immer mit Bedacht und schwiegen auch mal, wenn es sein musste.
Jetzt war er es, der mir die Frage aller Fragen stellte, die ich einem 'Wie geht es dir?' Immer bevorzugte.
"An was denkst du?" Ich schluckte erneut. "Ich denke darüber nach, ob deine Angst berechtigt ist oder nicht."
Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag blitzten seine Augen, doch er blieb stumm. Dennoch ging der Schmerz, der für kurze Zeit merkbar durch seine Glieder fuhr, auf mich über. Er war gekränkt. Anders als wir beide uns zu tiefst gewünscht hätten, hatte ich mich auf eine Seite katapultiert, auf der weder er stand, noch ich sein wollte. Für Sekunden stand ich wieder auf dem Volleyballfeld in der 11. Klasse. Lena und Tanya mir im Gegnerteam gegenüber und Gleichstand auf der Uhr. Sie waren mir die liebsten Menschen und ich gönnte ihnen den Gewinn, aber auch ich wollte einmal als Sieger aus einem Tunier hervor gehen und nicht wieder wie ein besiegter Löwe das Schlachtfeld räumen müssen, weil ich zu feige war, den letzten harten Schlag über die Defens zu hämmern, zu welchem ich absolut fähig gewesen wäre. Meine Kraft hätte gereicht, doch ich tat es nicht.

Ich war mal wieder vor einer Wand angelangt und diesmal war sie höher als je zuvor.
Auf einmal taten mir die Knie weh. Mittlerweile standen wir schon länger als 10 Minuten einfach so mittig auf dem Teerweg und mir wurde kalt. So modisch mein Mantel auch war, warm hielt er nicht wirklich. Ich zuckte leicht, als ein Windhauch meine Beine streifte.
"Ist dir kalt? Wollen wir zurück zu den Autos gehen?" Sein Blick war besorgt, aber distanziert. Auch ihm schien klar geworden zu sein, dass ich selbst nicht wusste, ob ich mit gezinkten Karten spielte oder nur wahllos, wie beim Lotto Zählchen ankreuzte. "Ja." Hauchte ich in den, sich dem Abend neigenden, Nachmittag.
Er akzeptierte ohne Widerrede und wir kehrten, ohne noch etwas zu sagen, um, zurück in Richtung Parkplatz.

Sein großer schwarzer Q2 stand am Ende des Schotterplatzes. Ich hatte weiter weg geparkt. Als wir an seinem Auto ankamen, drückte er den Knopf am Schlüssel und mit einem kurzen Geräusch entriegelte sich der moderne Wagen. Ich sah zu ihm. Langsam sammelte ich Mut, für die Frage, die der Kern aller Dinge zwischen uns, dem heutigen Gespräch und wahrscheinlich der Zukunft war. "Ronnie? Willst du, dass ich verschwinde? Aus eurem Leben? Aus ihrem Leben? Willst du, dass ich nie wieder zu euch komme und ich alles vergesse, was ich fühle und was ich noch nicht fühle?" Mir schmerzten die Wort bis auf die Zunge. Doch ich fand erst jetzt, wo keine Zeit mehr blieb, den Mut ihn wirklich danach zu fragen. Er sah zum Auto, welches still nur wenige Meter von uns entfernt in der, von den Wolken verdeckten Abendsonne, stand und darauf wartete, seinen Dienst zu tun. Sein Blick wanderte an mir auf und ab und blieb schlussendlich konzentriert auf meinem Gesicht hängen. "Ich denke, dass hab ich nicht mehr zu entscheiden. Ich denke, dass du weißt, was ich denke." Mit diesen Worten und ohne mich noch einmal anzusehen ging er zum Auto, stieg ein und griff nach der Tür. Doch er zog sie nicht zu, sondern hielt inne. "Ich will nur das Beste für sie. Ich liebe sie. Das hab ich schon immer. Auch als es schwerer war, als die Kinder klein und unsere Jobs nicht so gut bezahlt waren." Nun sah er auf und wieder direkt in meine Augen. "Charlie, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nur, dass, wenn du ja Teil des Guten, nein, des Besten für sie bist, bleibt mir keine Wahl außer abzuwarten, was werden wird. Und dann steht es mir auch nicht zu, dir zusagen, was du tun oder lassen solltest. Ich kenn Liz wirklich schon sehr lange und auch wenn ich nicht weiß, ob es kein großer Fehler ist, vertraue ich ihr da voll und ganz.
Aber Charlie, versprich mir eins. Pass auf was du tust. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringen wird. Aber bitte, richte kein Unheil an, was niemand wieder gerade gebogen bekommt." Mit diesen Worten und ohne mir eine Möglichkeit zu geben, zu antworten, schloss er die Tür, startete den Motor und fuhr mit einem leichten Nicken und einem letzten, bedachten Blick auf mich, davon.

Zurück blieb nur mein gedankliches Schlachtfeld und ich festgefroren am Schotterboden. Ronnie Jansen hatte seine Figuren gesetzt, jetzt war ich an der Reihe. In einem Spiel das fair gespielt wird, sind alle Sieger. Doch spielt nur einer falsch, ist die Partie dahin und jeder verdächtig, es gewusst zu haben, wenn es raus kommt. Komisch, wie sich doch die Dinge drehen und wenden konnten. Noch wenige Stunden zuvor war er mir beinah unbekannt. Jetzt aber hatte er meine vollkommene Aufmerksamkeit und war nicht mehr nur Liz' Ehemann, sondern Jemand, der mit Gefühl und Bedacht auf dem Schachbrett spielte.
Bei einer Sache war ich mir aber tatsächlich voll und ganz sicher. Er wusste, genau wie ich, dass egal was kommen würde, unser aller Leben stark davon abhing, welchen Pfad wir, uns bezüglich, einschlagen würden. Leichter wäre es gewesen, zu wissen, welche zur Auswahl standen.

Ihr Weg zu DirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt