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Unbewusst, aber wie ein heftiger Schlag ins Gesicht traf mich die Feststellung, dass Empfindungen der Motor des Geistes waren und Taten die des Körpers.
Bis dahin ging ich einen Weg, der einem 3 uhr morgens Spaziergang durch das Berlin der goldenen 20er beinahe gleich kam. Überall buntes Gewinnel, Puls, Tanz und Sirenen. Wie die Stadt der Mittelpunkt der Welt zu sein schien, war mein Geist der Mittelpunkt meines Handelns. Und alles drehte sich um die Suche nach Neuem, was ich in mich aufsaugen konnte, um nicht wie ein leeres Gefäß im Wandschrank der Menschheit zu enden.
Kurz gesagt: ich war verloren, verlassen von mir selbst. Ich stand vor mir und konnte mich selbst nich sehen. Das größte Problem war aber nicht das verloren sein an sich , sondern der Fakt, dass ich nicht genau wusste, ob ich wirklich verloren war, bis ich sie das erste Mal sah und sie mir alles nahm, was ich besaß und mir neue Dinge wieder gab, die ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte.
Leidenschaft, Selbstbewusstsein und Enthusiasmus aber auch Verlangen, Dominanz und Sehensucht.
Und das alles, ohne das ich es wusste. Ich glaube ich war zu jung dafür, denn mit 16 wissen die Wenigsten, was genau sie aus ihrem Leben machen wollen.
Ich war mir nur sicher, dass ich defintiv bi war, mein Abi machen und irgendwann mal nach Kanada wollte.

Jetzt mit 18 sollte ich eigentlich besser Bescheid wissen. Ich sollte wissen, wie ich irgendwas in meinem Leben auf die Reihe kriegen sollte und wie man aus Pattsituationen wieder raus kam. Vielleicht wusste ich das auch, nur war alles, wirklich alles, anders, seit dem Kuss.
Ich verfiel wieder mehr und mehr dem inneren Drang Kriege mit mir selbst zu führen, wie früher. Ich begann wieder unregelmäßig zu schlafen, wanderte nachts im Haus umher und meine Gedanken und mein Sehnen galt nur ihr und dem Kuss, der für sie bedeutungslos war. Anders konnte es nicht sein. Sonst hätte sie sich wenigstens gemeldet.

Ich steigerte mich immer mehr in meine Zerstreutheit hinein.
Freitag hatte sie natürlich nochmal krank gemacht. Ich war nicht fähig irgendwas im Unterricht zu Stande zu bringen, saß nur die Zeit ab und wartete, dass ich nach Hause kam. Ich redete wenig, aß nichts und starrte vor mich hin. Ich war innerhalb von 3 Tagen zu einem menschlichen Wrack geworden und sie hatte Schuld daran.

Selbst Marcel, dem viel egal war, sprach mich auf mein Verhalten an. Er war beunruhigt und meinte ich würde drein schauen, wie kurz vorm Selbstmord. Nicht witzig.
Ich schob es auf eine Erkältung und meine Migräne, die mir wirklich die Woche noch mehr zu schaffen gemacht hatte, als sonst.
Wie 1000 kleine Hämmer pochte es an meinen Schläfen und meine Augen brannten. Ich war nicht ich selbst. Ich wusste nicht, wer ich war.

Das Einzige, was klar war, war dass, wenn ich sie wiedersehen würde, meine Beherrschung hinüber sein dürfte und ich hatte Angst vor dem, was folgen würde.

Der kommende Samstag war für mich ein Kampf mit mir selbst. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Weder auf puzzeln, noch Netflix, noch ps4 und erst recht nicht aufs Lernen oder Hausaufgaben machen. Ich lag nur in meinem Bett, war auf Insta oder sippte durch die Fernsehkanäle. Wie immer kam nur Mist.
Aber selbst dieser Mist konnte mich nicht ablenken.
Mental fix und fertig ging ich in meiner inneren Verzweiflung in der herbstlichen Kälte laufen. Ich ging nie laufen, eher zum Crossfit-Training mit den Jungs, aber dafür war mein Kopf nicht frei genug. Gewichte konnte ich so nicht stämmen.

Am See machte ich Halt. Meine Körpertemperatur hatte sich aufgehitzt und mit schneller Atmung und den Händen in die Hüften gestemmt, sah ich über das glitzernde Nass. Es war ein schöner Tag. Relativ warm für ende September bzw Anfang Oktober und die Sonne stand schon fast orange am wolkenlosen Himmel. Das erste Mal seit Tagen machte sich das Gefühl von Ruhe in mir breit. Beinah in Zufriedenheit schwelgend begann ich zu lächeln.
"Ein schöner Tag." Sagte ich leise zu mir selbst, bevor ich mich auf die Wiese, auf der ich stand, fallen ließ und weiter die Sonne beobachtete, bis ich mich nach hinten lehnte und begann in den babyblauen Himmel zu starren.

"Du erkältest dich noch." Ich schrak zusammen und erhob mich. Jasmine stand in, für dieses Wetter viel zu dicker Kleidung, da und sah mich vorwurfsvoll an. "Keine Sorge. Das halte ich aus." Sie nickte schulterzuckend und ließ sich neben mir fallen. "Was machst du hier? Genießt du den Sonnenuntergang? Oder überlegst du baden zu gehen?" Ich musste lächeln. "Ne. Ich war laufen. Ich mach nur kurz Pause oder so. Vielleicht bin ich auch fertig mit laufen. Weiß nicht." "Dann wäre es wirklich klug, du würdest dich zumindest auf eine Bank setzen und nicht ins kalte und nasse Gras." Ihr Blick war wieder vorwurfsvoll. Aber das war er eh immer. Ich kannte sie schon länger. Sie war im Kulturverein und somit bei jeder Dorffeier dabei. Ihr Vater hatte den Vorsitz inne und sie versuchte sich da irgendwie einzugliedern. Jasmine war vllt 2 oder 3 Jahre älter als ich, sie wirkte aber durch ihre immer besorgte Art und ihren Umgang mit Menschen, die in der Kneipe im Dorf rumhingen älter. Sie trug auch nie Schminke. Das ist zwar relativ egal, ich trug auch nur Abdeckzeug und Wimperntusche, half aber nicht dabei, sie jünger wirken zu lassen. Aber sie war nett und freundlich, hatte immer ein offenes Ohr und mochte Tiere.
"Und warum bist du hier? Sonne oder Hund?" "Hund." Sagte sie kurz und knapp. Ihr Hund Bobby war ein Ungarischer Wolfshundmix aus dem Tierschutz. Ihm fehlte ein Ohr und er hatte Angst vor anderen Hunden und Auto fahren, jagte aber immer Gänse übers Feld, bis er fix und fertig war.
Ich sah die Beiden öfters durchs Dorf gehen, wenn ich von der Schule heimfuhr.
"Und wo isser?" Sie sah mich schulterzuckend an "Ich hab absolut keine Ahnung." Jetzt lachte sie. "Aber hey, der kommt schon wieder." Jetzt musste auch ich lachen. "100%" "Ich schätze mal der buddelt irgendwo Löcher im Feld." "Lass das bloß niemanden sehen. Du weißt, dass das Viele nicht so mögen." "Ja schon... aber hey issn freies Land." Sie zuckte mit den Schultern und begann über den See zu sehen. "Und sonst so? Wie geht's? Alles fit? Du siehst nämlich wirklich leicht mitgenommen aus." Sie sah weiter nach vorn, als sie das sagte. Es war ein ganz unkomplizierter Moment und für einen Bruchteil einer Sekunde, hatte ich das Bedürfnis ihr alles zu erzählen, wirklich alles.
Ich schluckte und biss mir auf die Lippen, bevor ich einen letzten Blick zum See richtete. "Eigentlich alles ok. Is gerade nur stressig in der Schule und so. Bin bissel seelisch fertig." "Merkt man gar nicht." Ihr ironischer Unterton war nicht zu überhören. "Was? Ach, Keine Ahnung. Is halt alles doof gerade." Sie stimmte nickend zu und legte ihre Hand behutsam auf meine linke Schulter. "Das wird schon wieder." Sie sah mich mitfühlend an.
Im nächsten Moment wuselte irgendwas im Gebüsch neben uns. Ich erschrak. Bobby kam mit einem Affenzahn auf uns zu und legte nur wenige Zentimeter vor mir eine Vollbremsung hin.
"Da isser. Sagte doch der kommt schon wieder." Jetzt mussten wir beide lachen. Ich streichelte den großen Hund, der sich langsam beruhigte und sich vor Jasmine's Füße warf. "Maaan, der hat ja dickes Fell. Kein Wunder das der auch im Winter nicht drinne schlafen will." "Aus dem was ich ihm täglich rauskämme könnte ich Pullis stricken." "Ja, das glaub ich dir."
Wir redeten noch ein Bisschen über allerlei Dorftratsch, bevor wir uns gemeinsam auf den Weg nach Hause machten.

Die Sonne hatte den Himmel schon in ein mächtiges Rot getaucht, als wir an meinem Hoftor ankamen.
"Danke fürs Heim bringen." Sie lächelte schief und nickte zustimmend. "Kein Ding. Haben wir gerne gemacht." Sie sah zu Bobby, welcher sich seelenruhig an ihre Beine schmiegte. Im Stehen reichte er Jasmine, die etwa 4 cm größer war als ich, fast bis an die Hüfte. Er war wirklich ein zahmer Riese.
"Wir sehen uns bestimmt im Dorf nochmal." "Ja sicher." Wir umarmten uns und sie verabschiedete sich, bevor sie sich von mir abwandte und mit Bobby den langen Weg vor zur Hauptstraße ging. Ich wartet noch bis sie aus meinem Sichtfeld verschwunden waren, bevor ich die Hoftorklingel drückte. Mit einem lauten knattern ging das Tor wenige Sekunden später auf und ermöglichte es mir mit schnellen Schritten der nun doch ansteigenden Kälte zu entfliehen.

Abends im Bett dachte ich noch lange an Jasmine. Ich war ihr dafür dankbar das sie mich, wenn auch nur für wenige Minuten, von meinen Gedanken von Liz befreit hatte. Sie war wirklich ein herzensguter Mensch und mitfühlend. Ich mochte sie.
Dennoch war mein letzter Gedanke, bevor ich mein Handy beiseite legte, wie auch die Abende davor Liz. Stärker als am Morgen wollte ich nun ihre Hand halten, ihr Parfüm riechen und ihre Nähe genießen. Doch ich durfte nicht.
Ich wälzte mich von links nach rechts und fand trotzdem keinen ruhigen Schlaf. Alles was passierte, hatte mein Inneres so aufgewühlt, dass alles unter Strom stand und ich nicht mehr in der Lage war ruhige Gedanken zu denken.

Ihr Weg zu DirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt