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"Das Geschehene kann man nicht rückgängig machen." Hatte meine Tante mal gesagt, als sie teetrinkend auf der Veranda stand und über ihr zerstörtes Rosenbeet sah. So kurz dieser Moment auch war, so sehr hatte er sich in meinen Verstand eingebrannt. Beinah so stark, dass ich die Sonne auf meiner Haut noch kribbeln spüren konnte, wenn ich daran dachte. Ich hatte schon einige Momente in meinem Leben, die für mich starke, gute Erinnerungen waren und die ich in meinem Herzen hielt für traurige Tage.
Tage wie heute. Wie die letzten Tage, wie die Tage, die kommen würden. Für immer. Ich wusste, dass all die guten Erinnerungen nicht ausreichen würden, um alle folgenden traurigen Tage zu überstehen. An manchen würde ich kaputt gehen, das wusste ich. Und an anderen, das wusste ich auch, würde ich wieder aufstehen. So leicht brachte man meinen eigensinnigen Verstand nicht zu Fall. Aber jetzt, jetzt, war ich doch kurz davor.
Ich versuchte meinem Kopf zu erklären, dass es wirklich passiert war, real war, dass ich wirklich, so kam es mir zumindest vor, in ihre Seele geblickt hatte. Wenn auch nur für einen Moment, für eine winzig kleine Ewigkeit.
Vor meinem inneren Auge: ihre glänzende Haut, ihr wirres Haar, ihr Körper, ihre Augen.
Es zerriss mich, diese Erinnerungen nicht vernichten zu können. Es gab nur eine Sache, an die ich mich jetzt klammerte, die mir halt gab: Zeit.
Zeit war schon immer der Schlüssel für alle Dinge. Zeit heilte alle Wunden und Zeit ließ vergessen.

Ich hatte meine Augen stark zusammengekniffen, mich in meine Bettdecke gehüllt und zählte meine Atmung: 1,2,3 ausatmen, 1,2,3 einatmen. Die Wärme, die sich in meinem Körper bildete und mich zum Schwitzen brachte, war über die letzten Tage ein ständiger Begleiter gewesen, in denen ich nichts tat. Rein gar nichts. Ich hatte mich von der Welt verabschiedet, war auf ungewisse Zeit untergetaucht. Und keiner bekam mich da raus. Mein Kopf war dem Denken müde geworden und mein Geist schien Winterschlaf zu halten. Die Tage verschwammen in einander. Doch aus dem Bett bekam mich nicht mal Tanya. Selbst meine Mutter fragte, was los sei. Ich antwortete ihr nur spärlich, so dass sie von selbst bemerkte, dass ich nicht reden wollte. Sie wusste, dass ich alt genug war, um mein Leben alleine zu leben und fragte nicht weiter nach. Wenn ich wöllte, würde ich zu ihr kommen. Auch das wusste sie. Ich liebte an ihr, dass sie mir den Freiraum gab, den ich brauchte, auch wenn sie zuweilen schwer drum tat, es zu akzeptieren.
Aber so sind die meisten Mütter nunmal. Sie sorgen sich.

Doch gerade war mir das egal. Vieles was mir mal wichtig war, war mir jetzt egal. Ich konnte an nichts anderes denken, als an diese Nacht, an sie, an den größten Fehler, den ich je begangen hatte und an Ronnie. Was er wohl gerade dachte? Oder schlimmer. Was er wohl getan hatte? Ich war mir nicht mehr sicher. Würde er ausrasten? Sich mit ihr streiten? Seine Ehe in Frage stellen und sie verlassen? Würde sie alleine zurück bleiben, er die Kinder nehmen? Was würde Lou dazu sagen? Sie würde wissen wollen, warum es zuende ist.
Und Liz? Sie würde daran kaputt gehen. Ihre harte Schale war nicht so dick, wie ich anfangs dachte und ihr innerstes viel zu instabil gebaut, um Dauerbeschuss über einen längeren Zeitraum auszuhalten.
Ich hasste mich. Was ich getan hatte, war unwiderruflich. Es würde jetzt für immer existieren, für immer zwischen uns stehen und mich vermutlich für immer verfolgen. Nicht nur in meinem Kopf, sondern auch im Herzen. Es war nie meine Absicht gewesen, irgendwem zu schaden, Herzen zu brechen oder Leben zu ruinieren. Aber ich hatte es getan. Mit dieser Nacht. Ich hatte es getan und die Folgen, die mit Sicherheit kommen würden, rollten in großen Gewitterwolken am Horizont heran und ich wusste nicht ob ich ihnen, so schutzlos wie ich war, standhalten oder wie in einem alten Cowboyfilm zu Boden gehen würde.
Die Zukunft hatte mich am Kragen gepackt und schleuderte mich in einem Affenzahn in Richtung einer Wolkenwand und ich lag noch immer eingehüllt in meiner Bettdecke und konnte nichts dagegen tun.

Ich lebte meine Ferien wie in einer Glaskugel. Alles äußere schien an mir abzuprallen. Ich verpasste viel. Tanyas Halloweenparty, den Geburtstag meines Onkels und den spontanen Kurztrip von ein paar Freunden aus meiner alten Schule, um ein paar Sachen aufzuzählen. Ich hielt mich auch von meinem Handy fern. Ich wollte keinen Kontakt. Zu niemandem. Vor allem nicht zu Liz. Allein ihren Namen zu lesen, war zu viel für mich.
Am Samstag bevor die Schule wieder losgehen würde, stand ich das erste Mal seit gefühlt 100 Jahren wieder bewusst auf, um an die frische Luft zu gehen. Irgendwie musste ich mich wieder an mein Leben gewöhnen. Es hatte geregnet und die kalte Luft war klar und roch nach Natur und irgendwie Beständigkeit. Falls etwas überhaupt nach Beständigkeit riechen konnte. Ich bildete es mir zumindest so ein. Ich zog mir meine wind- und wasserfeste Jacke drüber, kroch in mein altes Paar Stiefel und nahm mir ein Stirnband aus dem untersten Schubfach, das mit Sicherheit beinah genau so alt war wie ich. Mit den Händen in den Taschen bog ich von unserer Einfahrt aus direkt auf den Schotterweg, der, vom See weg führend, auf die Felder zulief. Mich überkam schon nach wenigen Metern eine Art Ruhe, die ich allein in meinem Zimmer für mehr als 1 Woche gesucht hatte, die aber selbstverständlich nirgends zu finden war. Ich blieb nach einer Weile stehen und sah über das erdig-aufgelockerte Feld, auf dem in den Frühlings- und Sommermonaten Raps trübgelb in voller Blüte stand. Im Hintergrund waren Vögel zu hören, die sich in den kahlen Ästen der Bäume, die etwas entfernt standen, haufenweise zusammengefunden hatten. Mit einer Windböe, die mir kräftig ins Gesicht peitschte, starteten sie in den milchig grauen Himmel und flogen fast allesamt davon. Ich sah ihnen nach. Zu gern würde ich mitfliegen, in den Wolken kreisen und alles hier hinter mir lassen. Einfach weg.

Ihr Weg zu DirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt