Kapitel 45

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So vergehen drei Wochen. Inzwischen ist es Mitte Oktober und ich habe an zwei weiteren Wettkämpfen teilgenommen, wo ich einmal den Dritten und einmal den Ersten Platz belegt habe. Diese Ergebnisse machen mich stolz und das viele Training zahlt sich endlich aus, obwohl ich immer noch Probleme mit einem Aerial habe. Paul hat sich zwar damit auseinander gesetzt und weiß auch, wo meine Fehler liegen, aber die richtige Umsetzung fällt mir noch immer schwer. Doch was das angeht, mache ich mir keinen Druck, da ich stetig besser werde. Auch Tyson hat sich eingelebt, wobei es ihm wahrscheinlich egal ist, wo er schläft, schließlich ist er noch sehr klein und bekommt nicht viel vom Alltag mit.

An einem Tag bleibe ich nach der Uni noch in Honolulu und treffe mich mit Poseidon. In den letzten Wochen sind wir uns immer näher gekommen und inzwischen weiß ich schon ziemlich viel über ihn. Diesmal haben wir uns nicht im Café Kalakaua verabredet, sondern am Waikiki Beach. Während ich auf meinen Vater warte, setze ich mich in den warmen Sand und streiche mit meiner Hand über die groben Körner. Heute ist es sehr windig und die Wolken ziehen schnell über den Himmel. Viele Surfer nutzen die guten Bedingungen und versuchen sich im Wasser gegenseitig zu übertreffen. Ich beobachte sie genau und entdecke sogar ein paar lokale Größen, doch zum Glück ist Octavian nicht dabei. Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter und jemand lässt sich neben mich fallen. Ich drehe meinen Kopf zu Seite und sehe in das Gesicht von meinem Vater. „Hallo, Percy. Tut mir Leid, dass ich zu spät komme.", begrüßt er mich, doch ich winke ab. „Macht doch nichts, ich bin auch erst gerade eben gekommen.", erwidere ich und lächle. In den zwei Monaten, in denen wir uns nun kennen ist er unbewusst ein richtiges Familienmitglied für mich geworden. „Wie geht es dir? Du siehst ein bisschen gestresst aus.", frage ich, nachdem ich noch einen zweiten Blick in sein Gesicht geworfen habe. Leichte Schatten liegen unter seinen Augen und der schwarze Bart ist ein wenig länger, als er ihn normalerweise trägt. Er lächelt betont fröhlich. „Nein, mir geht es gut.", antwortet Poseidon, doch ich kann es ihm nicht so Recht glauben, aber ich beschließe, ihn erst einmal nicht weiter zu fragen. „Erzähl mir lieber von dir. Wie war es in der Uni? Außerdem hast du noch gar nicht erzählt, wie der letzte Wettkampf lief.", beschwert sich mein Vater mit einem Grinsen. „Im College war es eigentlich wie immer. Aber langsam wird der Stoff ein bisschen schwieriger. Ich werde mich wahrscheinlich noch mehr reinhängen müssen.", fange ich an zu erzählen. „Die Surf-Contest liefen auch ziemlich gut. In Makaha bin ich Dritter geworden und in Laie sogar Erster." „Das ist ja klasse.", unterbricht mich Poseidon. „Ich hab's gewusst, dass du das Schaffen wirst!" Seine Worte füllen mich mit Stolz. „Danke.", erwidere ich. „Ich habe jetzt auch damit angefangen, Aerials zu trainieren, aber irgendwie wollen sie noch nicht so wirklich klappen. Aber ich bin optimistisch, dass ich es auch noch schaffen werde.". Er legt mir eine Hand auf die Schulter. „Ich bin mir sicher, dass du bald auch wieder Aerials kannst. Du hast ja schon oft genug unter Beweis gestellt, dass du eine wahre Kämpfernatur bist.", meint er. „Ich glaube, das habe ich von dir.", gebe ich grinsend zurück, doch als ich zu ihm sehe, erschrickt mich der traurige Ausdruck in seinen Augen und das Lächeln, das er mir zuwirft, erreicht seine Augen nicht. „Poseidon, du kannst mir ruhig erzählen, was los ist. Ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt. Du musst mich nicht beschützen, wenn etwas nicht in Ordnung ist, dann will ich das wissen und ich denke, ich habe auch ein Recht darauf.", sage ich bestimmt und blicke ihn abwartend an. Mein Vater seufzt und fährt sich mit einer Hand durch die Haare. In diesem Moment kommt er mir nicht mehr so stark wie sonst vor, sondern viel verletzlicher. „Es geht ja gar nicht um mich... es ist nur...", er stockt und sein Blick wandert zum Meer. Ich warte ruhig, bis er weiterreden will. „Ein Freund von mir bei den Navy Seals ist von einem Kampfeinsatz zurückgekommen.", fängt er leise an zu erzählen. „Er war in Afghanistan. Sein Einsatz verlief gut und er war schon fast wieder Zuhause, da wurde seine Truppe auf eine letzte Mission geschickt. Es war unglaubliches Pech. Sie überquerten ein Feld, das eigentlich als sicher galt, doch es gab auf dieser zwei Quadratkilometer großen Fläche genau eine Landmine und er ist auf sie getreten.", wieder macht er eine Pause, in der er seine Hände nervös knetet. Zum ersten Mal wird mir richtig bewusst, was mein Vater für einen Beruf hat und wie gefährlich er wirklich ist. Seine Erzählung scheint außerdem nur einen Bruchteil von all dem zu beschreiben, was auf so einem Kampfeinsatz wirklich passieren kann. Auf meinem Arm hat sich eine Gänsehaut gebildet und auch die Sonne kann sie nicht vertreiben. „Er hat sein linkes Bein verloren. Doch was mir noch viel mehr zu schaffen macht, ist, dass er seinen Lebenswillen verloren zu haben scheint.", murmelt Poseidon. Während er spricht, wandert meine Hand automatisch zu dem Stumpf an meiner rechten Schulter. Mein Magen verkrampft sich schmerzhaft. Ich kann dieses Gefühl sehr gut nachempfinden, schließlich erinnere ich mich noch ganz genau daran, wie ich mich in den ersten Tagen und Wochen nach dem Haiangriff gefühlt habe. „Er ist hier auf O'ahu in einem Pflegeheim für Veteranen. Ich besuche ihn so oft ich kann, aber... ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Er weigert sich, irgendwas zu machen und liegt eigentlich nur noch im Bett und starrt die Decke an." Mehrere Augenblicke lang ist es still zwischen uns und keiner sagt ein Wort. Der Hintergrundlärm rauscht in meinen Ohren. „Es ist schwierig, so etwas zu verarbeiten.", flüstere ich schließlich. „Ich weiß, Percy, ich weiß.", gibt er leise zurück.

Ich lege ihm meine Hand auf die Schulter und hoffe, dass ich allein dadurch, dass ich einfach da bin, ein wenig den Schmerz lindern kann. Die nächsten Minuten sind wir wieder still. Ich lasse meine Gedanken schweifen. Ich weiß, wie sich so ein Verlust anfühlt, wie verloren und einsam man sich fühlt, weil niemand einen wirklich versteht. Wie wütend man auf die Leute ist, die einem sagen, das alles wieder gut wird, obwohl sie keine Ahnung haben, was in einem vorgeht. Aber dennoch bin ich darüber hinweggekommen. Ich bin darüber hinweggekommen. Mir kommt eine Idee. „Würde es helfen, wenn ich mal mit ihm rede? Ich habe schließlich dasselbe durchgemacht und vielleicht hört er auf jemanden, der es versteht.", schlage ich vor und mein Vater dreht sein Gesicht zu mir. „Das würdest du machen?", will er ungläubig wissen. Als Antwort zucke ich lediglich mit den Schultern. Ich weiß nicht, was ich will, aber ich weiß, dass ich tun muss, was ich tun kann, um dem Freund von meinem Vater zu helfen. „Percy, dieser Vorschlag ist wirklich großzügig von dir, aber ich möchte nicht, dass du es tust, weil du dich mir gegenüber verpflichtet fühlst. Das kann ich nicht von dir verlangen.", sagt Poseidon. „Ich glaube, dass ich es machen will. Wenn ich ihm helfen kann, dann werde ich es tun.", antworte ich und sehe ihn fest an. Er sieht die Entschlossenheit in meiner Miene und betrachtet mich stolz. Anschließend steht er auf und klopft sich den Sand von der Hose, dann lächelt er. „Hast du heute noch Zeit? Mir wäre es am liebsten, wenn ihm so schnell wie möglich geholfen wird, bevor er... naja, du weißt schon... sich etwas antut.", sagt er betrübt. Auch ich stehe nun auf. „Nichts wie los."

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