Kapitel 65

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Paul hat einmal zu mir gesagt, dass ich immer auf meine Instinkte hören soll. Seit ich denken kann, bin ich im Wasser und seit wir nach Hawaii gezogen sind, habe ich fast jede freie Minuten hier im Meer verbracht. Ich kenne es fast auswendig und weiß, wo ich surfen kann und wo nicht. Meine Sinne verraten mir meistens, was ich machen soll, oder was ich lieber bleiben lassen sollte. So war es schon immer und ich habe gelernt, darauf zu vertrauen. Das hat auch Paul bemerkt und meinte eines Tages, dass ich immer auf sie hören solle, denn sie liegen meist richtig. Jetzt, während ich auf eine letzte Welle warte und die Zeit gnadenlos runterläuft, habe ich das dringende Bedürfnis, los zu paddeln, weiter hinaus in das Meer. Obwohl es spiegelglatt ist, drängt mich jede meiner Körperzellen dazu, mich einfach auf den Weg zu machen. Mein Gehirn sagt mir zwar, dass es sinnlos ist, dass die Nationals vorbei sind, weil einfach keine Welle mehr kommen wird, aber mein Gefühl ist dagegen. Irgendwas zieht mich nach draußen. Ich fahre mit meiner Hand sanft durch das Wasser, spüre die kühlen Tropfen auf meiner Haut. Es ist, als würden auch sie mich dazu bewegen wollen, einen letzten Versuch zu wagen, obwohl sich keine Wellen mehr bilden. Ich atme tief ein und aus und lege mich auf mein Board, bevor ich mit dem Paddeln anfange. Es Plätschert, während ich immer und immer wieder mit meiner Hand in das Wasser eintauche und mich langsam vorwärts bewege. Ich kann das Tuscheln der anderen Surfer hinter mir hören , die sich fragen, was ich tue und bemerken, dass es sinnlos ist. Nicht einmal Octavian folgt mir, obwohl er nie irgendeine Gelegenheit verpassen wollen würde. Aber sie denken wahrscheinlich alle, dass ich verrückt geworden bin. Ich lasse mich nicht davon irritieren und mache einfach weiter, bis ich fünfundzwanzig Meter vor der Gruppe anhalte. Es sind nur noch gute fünf Minuten übrig und noch immer sind keine Wellen zu sehen. Doch ich bin gänzlich entspannt. Meine Instinkte sagen mir, dass ich nur noch wenige Augenblicke warten muss, dass meine Bemühungen gleich belohnt werden. Die Geräusche im Hintergrund verklingen zu einem stetigen Rauschen, es ist wie eine Art Trance, in der ich mich befinde. Meine Augen lassen den Horizont nicht aus dem Blick, sodass ich jede kleine Veränderung sofort bemerken würde. So warte ich.

Mein Mund ist leicht geöffnet, der Wind fährt durch meine Haare, die teilweise nass an meiner Haut kleben. Meine Hand hängt ins Wasser und streicht ab und zu über die sich immer bewegende Oberfläche. Dann spüre ich plötzlich etwas, es ist wie ein leichtes Vibrieren, kaum spürbar, aber dennoch da. Vielleicht bin ich der Einzige, der es spürt, vielleicht bilde ich es mir nur ein, ich weiß es nicht. Aber nur Sekunden später hebt sich eine Wasserwand aus dem Meer vor mir ab, die sich langsam auf den Strand zuschiebt. Meine Instinkte haben mich nicht getäuscht. Es hat sich eine Welle gebildet, die von meinem Standpunkt aus wie die größte Welle am heutigen Tag aussieht. Freude durch strömt mich und ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Ich lege mich auf mein Board und paddle der Welle entgegen, die immer näher kommt. Als ich die richtige Entfernung erreicht habe, drehe ich mich und blicke nun in Richtung Strand. Viele der Menschen sind aufgestanden und es scheint, als könne ich eine einzelne Person mit blonden Haaren direkt an der Brandung sehen. Die Wassermassen ziehen an mir und ich spüre, wie ich von der Welle angesogen werde. Ich warte noch kurz, bevor ich den Take-Off mache. Dann stehe ich auf meinem Surfbrett und spüre den Wind auf meiner Haut und in den Haaren. Salzwassertropfen spritzen in mein Gesicht und brennen ein bisschen in den Augen. Ich surfe Turns und einen Backside Tailslide. Die ganze Zeit muss ich lächeln. Die Welle ist groß und noch lange nicht zu Ende. Bevor ich mich für einen weiteren Trick entscheiden kann, spüre ich, wie sich die Wassermassen verändern. Die Welle fängt an, zu brechen und ein Dach über mir zu bilden. Ich ändere meine Richtung und surfe nun ein bisschen weiter unten auf der Welle. Die bricht immer weiter und das Wasser, das zuerst nur über meine Kopf war, bewegt sich und bildet langsam einen Vorhang zwischen mir und dem Strand. Trennt mich von dem Rest der Welt ab. Ich spüre den Wind, der von hinten durch den Tunnel, den das Meer um mich gebildet hat, weht. Die untergehende Sonne leuchtet die Außenwände an und lässt sie in den verschiedensten Farben leuchten. Der Anblick verzaubert mich. Ich gehe leicht in die Knie, um mich der Höhe der Tube anzupassen. Außerdem muss ich ein bisschen mehr Geschwindigkeit aufnehmen, da ich sonst vom Wasser überrollt werden könnte. Immer weiter surfe ich auf den Ausgang des Tunnels vor mir zu, der von der Sonne angeleuchtet wird und im wahrsten Sinne des Wortes das Licht am Ende des Tunnels darstellt. Und ich weiß, dass es für mich wirklich so ist. Wenn ich es schaffe, dieses Tuberiding abzuschließend, dann habe ich es geschafft. Dann bin ich wahrhaftig wieder zurück. Ich berühre mit meiner Hand die Wand der Welle, die zu meiner linken liegt. Mein Zeigefinger zieht einen Strich durch die Wasserwand, hinterlässt eine Spur. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl. Mein Herz pocht laut und kraftvoll und ich richte meinen Blick konzentriert auf den Ausgang vor mir. Er kommt immer näher und schließlich erreiche ich ihn endgültig. Ich surfe aus dem Tunnel heraus und erreiche das Licht.

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