Kapitel 66

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Im ersten Augenblick blendet mich die Sonne, obwohl es in der Tube auch hell war. Ich muss blinzeln und sehe mich einen Moment verwirrt um. Dann wird mir klar, was ich gerade getan habe. Das Tuberiding ist die Königsdisziplin des Surfens und außer mir hat es heute niemand gezeigt. Ich strecke meine Hand jubelnd in die Luft und höre nun wieder die Geräusche vom Strand, die ich zuvor ausgeblendet habe. Die Menschen jubeln mir zu. Das Lächeln in meinem Gesicht vertieft sich zu einem glücklichen Grinsen. Ich surfe zum oberen Rand der Welle und durchbreche sie. Dann springe ich einfach ins Wasser und beende meinen Ride.

Eine knappe Minute später ist dann das Finale zu Ende. Das Signal ertönt und wir paddeln zurück zum Strand. Ich spüre die Blicke der Anderen auf mir. Sie sehen mich beeindruckt an und ich kann in ihren Blicken die Frage, woher ich es gewusst habe, dass noch eine Welle kommt, lesen. Nur Octavian sieht mich böse an. Ich kann mir gut vorstellen, dass er innerlich vor Wut kocht und mich nun noch mehr hasst, als ohnehin schon. Aber das ist mir egal. Denn ich habe es geschafft.

Kurz bevor ich aus dem Wasser gehe, bleibe ich stehen. Auf der großen Leinwand werden die Namen, Wertungen und jeweiligen Platzierungen eingeblendet. Ich kneife meine Augen zusammen und versuche, etwas zu erkennen. Der erste Platz geht an Julius Florence, er hat es meiner Meinung nach auch absolut verdient. Außerdem ist seine beste Wertung von 9,70 Punkten ohnehin nur schwer zu toppen. Den zweiten Platz belegt Jack Flenning, den ich auch schon vom letzten Jahr kenne. Er erreicht eine Wertung von 9,56 Punkten. Und dann wandert mein Blick zum dritten Platz. In der Erwartung, dort Octavians Namen zu lesen, reiße ich die Augen auf. Denn dort steht nicht Octavian Clarke. Dort steht Percy Jackson.

Mein Gehirn weigert sich, das Geschriebene zu begreifen. Mein Mund klappt auf und zu, wie ein Fisch im Trockenen. Es ist unmöglich, dass ich es auf den dritten Platz geschafft habe. Unmöglich? Ich blinzele und sehe noch einmal hin. Meine Augen haben mir keinen Streich gespielt. Für die letzte Welle habe ich eine Wertung von 9,30 Punkten erhalten und liege somit genau drei Punkte vor Octavian. Dieser ist nun ein paar Meter neben mir stehen geblieben und sieht seinerseits fassungslos auf die Leinwand. „Kann nicht sein.", murmelt er leise. Doch anschließend begreift auch er, dass ich ihn in letzter Sekunde vom Podest gedrängt habe. Diesmal bin ich es, der das fiese Grinsen im Gesicht hat. Mir tut es überhaupt nicht leid. Ich finde, er hat es verdient, heute nur auf dem vierten Platz  zu landen. Außerdem halte ich es für Gerechtigkeit, schließlich hat er sich vor allem am Anfang regelrecht in meinem Leid gesuhlt und immer wieder versucht mich bloßzustellen oder zu schikanieren. Es geschieht ihm Recht. Mein Erzfeind stakst nun hochnäsig aus dem Wasser und versucht allen Anschein nach, seine Wut unter dieser Miene zu verstecken. Doch vorher rumpelt er mich noch an. „Dafür wirst du bezahlen, Jackson.", zischt er so leise, dass nur ich es hören kann. Aber auch diese Drohung kann mir meine gute Laune nicht verderben. „Anstatt große Reden zu halten, solltest du lieber deine Teilnehmerurkunde abholen, Octavian.", stichele ich mit einem Lächeln zurück. Er zieht hörbar die Luft ein und geht pikiert davon. Jetzt laufe auch ich aus dem Wasser. Sofort bin ich von jubelnden Menschen, die mich beglückwünschen wollen, umringt. Ich suche mir einen Weg durch die Masse an Leuten und halte nach einer bestimmten Person Ausschau. Endlich entdecke ich sie. Sie steht ein bisschen abseits am Rand, hat die Arme verschränkt und beobachtet mit einem belustigten Gesichtsausdruck das Schauspiel vor ihr. Die blonden Haare leuchten in der untergehenden Sonne und fallen ihr locker in das Gesicht. Ich fange automatisch an zu strahlen, als ich Annabeth betrachte. In diesem Moment entdeckt sie mich. Sie lächelt mich stolz an und bei diesem Anblick wird mir warm ums Herz. Jetzt kommt sie mir endlich entgegen und wird mit jedem Schritt schneller, bis sie irgendwann fast sprintet. Annabeth wirft sich in meine Arme und rennt uns beinahe beide um. Unsere Lippen finden sich und wir küssen uns sanft. Ich fühle, wie erleichtert sie ist, dass mir nichts passiert ist, aber auch ihren Stolz auf mich und die Freude über meinen Erfolg. Es scheint sie nicht im Geringsten zu stören, dass ich vollkommen nass bin und sie somit auch nass mache. Nach einer kleinen Ewigkeit trennen wir uns wieder voneinander. „Du hast es geschafft.", murmelt Annabeth leise und lehnt ihren Kopf an meine Schulter. „Ja, das habe ich.", flüstere ich zurück. „Aber weißt du was? Ohne dich hätte ich das nie geschafft." Nachdem ich geendet habe, hebt sie ihren Kopf wieder an und sieht mir tief in die Augen. „Danke.", sage ich noch, dann stellt sie sich auf die Zehenspitzen und küsst mich erneut. „Ich würde es immer wieder machen", haucht sie und lächelt. Dann wird ihr Gesicht ernst. „Wir sollten wieder zurückgehen. Es werden bestimmt ein paar Reporter mit dir Sprechen wollen.", meint sie und ich stöhne auf. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht.", antworte ich. Also gehen wir zusammen wieder in das Getümmel von Menschen.

Es dauert nicht lange, bis ich von ihnen umringt bin. Ich habe gar keine Möglichkeit, mit meinen Eltern oder Hazel und Frank zu reden und weiß auch nicht, wie viele Fotos gemacht werden. Irgendwann ist der erste Trubel abgeklungen und ich sehe Mom, wie sie auf mich zu gerannt kommt. In der Hand hält sie mein Smartphone. Als sie bei mir angekommen ist, ist sie ein wenig außer Atem. „Zuerst dachte ich, es sei unwichtig, aber diese Person ruft jetzt schon das dritte Mal an und deswegen-..." Ich unterbreche sie. „Ist schon gut, Mom." Sie reicht mir das Handy und ich sehe auf das Display. Die Nummer ist unbekannt und ich bin verwirrt. Wer würde mich jetzt anrufen? Meine Hand zittert ein wenig, als ich es an mein Ohr drücke und den Anruf annehme. „Hallo?", frage ich. Die Verbindung ist schlecht und die Leitung knistert ein wenig. Gespannt warte ich darauf, dass sich jemand meldet. „Percy? Bist du da?", fragt mich eine mir allzu bekannt Stimme, die ich seit guten zwei Wochen nicht mehr gehört habe. Mein Herz macht einen Hüpfer. „Dad, bist du das?", will ich wissen und gehe ein paar Schritte auf die Seite, um ein bisschen mehr Ruhe zu haben. „Ja, ich bin's.", erwidert Poseidon. „Wie-...", beginne ich, doch er unterbricht mich. „Bevor du dich wunderst: ich habe heute ein wenig Zeit gehabt und die Nationals im Live-Stream mitverfolgt. Ich war also die ganze Zeit dabei.", erklärt er und ich bin einen Moment lang sprachlos. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. „Ich habe auch nicht so viel Zeit, wie ich gerne hätte, aber ich musste dich einfach anrufen.", redet mein Vater weiter. „Wie geht es dir?", will er wissen. „Mir könnte es nicht besser gehen.", antworte ich wahrheitsgetreu. Poseidon lacht leise in das Telefon. „Ja, das kann ich mir vorstellen.", murmelt er. Dann hebt er seine Stimme und spricht wieder lauter. „Ich muss leider gleich Schluss machen, aber ich will, dass du eins weißt: Ich bin so unglaublich stolz auf dich, wenn ich noch stolzer wäre, dann würde ich platzen. Es ist mir eine Ehre, dass ich einen so starken Sohn habe, der sich von nichts unterkriegen lässt und nie aufgibt. Es tut mir immer wieder leid, dass ich nicht schon früher für dich-...", diesmal unterbreche ich ihn. „Danke, Dad.", sage ich leise. Meine Augen brennen und ich muss die Tränen zurückhalten. „Du musst dir keine Vorwürfe mehr machen, es ist okay, wirklich." Es ist einen Augenblick lang still an der anderen Seite der Leitung. Dann räuspert sich Poseidon. „Naja, auf jeden Fall bin wirklich stolz auf dich und ich könnte nicht glücklicher sein." „Danke. Weißt du schon, wann du wieder nach Hause kommst?", wechsele ich das Thema. Ich habe seit zwei Wochen nichts mehr von ihm gehört und diese Frage hat mir im Kopf gebrannt. „Es kann sein, dass ich Mitte April zurück nach Hawaii komme, aber es ist  noch nichts sicher.", erklärt mein Vater. „Es tut mir Leid, Percy, aber ich muss jetzt auflegen. Feier schon, ja? Und mach dir nicht zu viele Sorgen.", verabschiedet er sich. „Versprochen. Aber pass auf dich auf.", sage ich noch, dann bricht die Verbindung ab und ich stehe einen kurzen Moment  verloren am Strand. Mom hat mich die ganze Zeit aus einer Entfernung, aus der sie nicht mehr mithören konnte, beobachtet. Jetzt kommt sie mit neugierigem Gesichtsausdruck auf mich zu. „Wer war das?", will sie wissen. „Dad.", gebe ich knapp zurück und sie scheint zu verstehen. Mom nickt einmal kurz. „Du solltest übrigens zu Paul gehen, er führt gerade ein sehr interessantes Gespräch.", teilt sie mir mit. Ich runzle die Stirn. „Was denn?", frage ich, doch darauf lächelt sie nur verschmitzt. „Du wirst es schon noch sehen."

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