Kapitel 46

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Kurz darauf sitzen wir beide in Poseidons Auto. Die Hände meines Vaters umklammern das Lenkrad richtig und ich kann sehen, wie angespannt er wirklich ist. „Wie heißt er? Erzähl mir ein bisschen was über ihn.", fordere ich ihn auf. „Sein Name ist Christoph Dowell. Er ist Neununddreißig Jahre alt und wir haben sehr lange zusammen gedient und ich kenne ihn jetzt schon seit über Zehn Jahren.", nach einer kurzen Pause redet er weiter „Er ist nicht verheiratet und hat auch keine Kinder. Weißt du, wenn man so einen gefährlichen Beruf hat, dann bindet man sich selten fest. Es bedeutet einfach zu viel Schmerz für die Angehörigen, wenn einem etwas zustößt", erzählt er. Ich erinnere mich daran, dass dies auch der Grund für die Trennung von meiner Mom gewesen ist. „Wo befindet sich das Heim?", frage ich nun. „Es ist nicht mehr weit. Es befindet sich etwas außerhalb von Honolulu und es wird von der US Army finanziert." Ein paar Minuten später sind wird dann auch angekommen. Mein Vater parkt auf einem Parkplatz vor dem Gebäude, dann dreht er sich zu mir. „Bist du dir wirklich sicher, dass du das machen willst? Ich meine, natürlich will ich, dass Christoph geholfen wird, aber dennoch bist du nicht dazu verpflichtet, Percy.", fragt Poseidon ein letztes Mal. Ich nicke ihm aufmunternd zu und so steigen wir aus und gehen in das Gebäude. Die klimatisierte, kühle Luft schlägt mir entgehen, als sich die automatischen Türen vor mir öffnen. Ich atme einmal tief durch und sehe mich im Eingangsbereich um. An der einen Seite ist eine Art Tresen, hinter dem eine Empfangsdame sitzt. Sie lächelt meinem Vater freundlich zu, anscheinend kennt sie ihn schon. Poseidon wiederum lässt sich gar nicht erst lange aufhalten und geht auf den Aufzug zu. Ich folge ihm und wir fahren in den dritten Stock. Dort treten wir wieder in den Flur und er geht zielstrebig den Gang entlang, bis er vor einer Tür stehen bleibt. Uns sind keine Menschen über den Weg gelaufen, nur hinter manchen Türen kann man gedämpfte Stimmen erahnen. Ich höre, wie er einmal tief einatmet, dann öffnet Poseidon die Tür und betritt den Raum. Ich folge ihm, halte mich aber vorerst im Hintergrund. Mein Blick huscht durch den Raum und ich registriere, wie mein Vater vor dem Bett stehen bleibt. „Was machst du hier?", ertönt nun eine kratzige Stimme. „Dich besuchen, Christoph. So etwas machen Freunde nun einmal.", antwortet er. „Außerdem habe ich jemanden mitgebracht." Er dreht sich zu mir um und bedeutet mir, näher zu kommen. Ich trete neben ihn und sehe auf das Bett herunter. Ein relativ großer Mann mit blonden Haaren, eingefallenen Wangen und leeren Blick sieht mir entgegen. Eine Narbe zieht sich von seiner Schläfe bis zu seinem Haaransatz und auch die Hände sind vernarbt. Ich kann erkennen, dass er früher mal ein richtiger Kämpfer gewesen sein muss, doch nun sieht er wie ein Häufchen Elend aus. Einen Moment lang frage ich mich, was ich hier überhaupt mache. Dieser Mann muss so viel im Krieg durchgemacht haben, dass ich es bestimmt nicht verstehen kann. Ich komme mir so klein und bedeutungslos vor, doch dann spüre ich die Hand von meinem Vater auf meiner Schulter und diese Berührung gibt mir Sicherheit. „Das ist mein Sohn, Percy Jackson.", stellt er mich vor. Christophs  Augen wandern zu meinem Gesicht und dann zu meinem Armstumpf. Sofort zieht er eine Augenbraue hoch. „Ich denke, ihr habt eine Menge zu besprechen.", meint Poseidon, dann dreht er sich um und verlässt das Zimmer. Die Tür fällt ins Schloss und bin ich alleine.

Ich ziehe mir einen Stuhl an das Bett und lasse mich darauf nieder. Christoph beobachtet mich genau. Es entsteht kurz Stille. „Wie ist das passiert?", ist das erste, was er zu mir sagt. Seine direkte Frage überrascht mich ein wenig, aber wahrscheinlich legt er in seiner Situation nicht viel auf Drumherum-Gerede. „Ich bin Surfer und dazu noch ein ziemlich guter. Im Januar waren die nationalen Meisterschaften und ich habe mich als einer der jüngsten, die jemals teilgenommen haben, qualifiziert. Aber es lief alles schief. Haiattacke. Und ich habe einen Arm verloren.", fasse ich alles zusammen. Christoph sieht mich mit neuer Neugierde an und setzt sich sogar ein bisschen auf. „Wieso hat Poseidon nie von dir erzählt?", will er wissen. „Weil er nichts von mir wusste. Meine Mutter hat meine Existenz vor ihm verschwiegen und so hat er siebzehn Jahre lang nichts von mir gewusst. Dann hat er einen Artikel über Nachwuchstalente im Surfen gelesen und da wurde auch ich erwähnt. Er hat Ähnlichkeiten zwischen uns entdeckt und auch der Nachname hat gepasst. Meine Mutter hat es bestätigt und kurz nach meinen achtzehnten Geburtstag haben wir uns dann das erste Mal getroffen. Das ist jetzt zwei Monate her." Nun scheint er ehrlich interessiert. „Erzähl mir mehr. Was ist bei den Meisterschaften genau passiert?" „Ich war am Gewinnen. Ich hatte schon ein paar sehr gute Wellen und die Wertungen, die ich bekommen habe, waren fast nicht zu toppen. Ich hatte den Sieg schon fast in der Tasche, aber dann... Naja, das muss ich wohl nicht genau erzählen, oder? Ein Hai hat mir den rechten Arm abgebissen und ich wäre fast ertrunken. Die Rettungsschwimmer konnten mich gerade noch rechtzeitig aus dem Wasser ziehen und dann war da ja noch der enorme Blutverlust. Aber ich habe überlebt." Christoph schüttelt ungläubig den Kopf. „Du bist Achtzehn, oder? Und du musstest schon so viel durchmachen.", murmelt er so leise, dass ich es kaum verstehen kann. Plötzlich richtet sich sein Blick wieder auf mich. „Wie bist du darüber hinweggekommen?", in seinen Augen blitzt unbeschreiblicher Schmerz auf und auch Hoffnungslosigkeit. Dieser Ausdruck jagt mir Angst ein. Habe ich auch so ausgesehen? „Du siehst so normal aus. Als würdest du mit der Situation klar kommen. Wie schaffst du das?" Ich öffne meinen Mund, nur um ihn kurz darauf wieder zu schließen und denke einen Augenblick nach. „Wie genau ich es geschafft habe? Ich habe keine Ahnung. Am Anfang hatte ich keine Hoffnung mehr und wollte alle von mir stoßen. Jeder Tag war eine riesige Herausforderung und vor allem das Gefühl, ein Krüppel zu sein war schlimm. Ich dachte, dass ich für jeden nur eine Belastung wäre und das hat mir, glaube ich, am meisten zugesetzt." „Das Gefühl kenne ich", flüstert er leise. „Aber ich musste auch lernen, dass so etwas nicht  das Ende ist. Das Leben geht weiter, egal ob man will, oder nicht. Man hat nur zwei Wege, die man gehen kann. Entweder gibt man auf, oder man kämpft.", ich mache eine kleine Pause „Ich habe mich für das Kämpfen entschieden. Denn es gibt so viele Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt." Der Ausdruck in Christophs Augen verändert sich ein wenig. Vielleicht ist jetzt ein wenig Hoffnung zu sehen. „Ich lüge Sie nicht an, Christoph. Es war hart, sehr hart. Es war nicht einfach und es wird bestimmt nie einfach werden. Und ich werde auch nie verstehen können, was da drüben passiert ist. Aber Sie müssen sich entscheiden, wie es weitergehen soll. Wollen Sie kämpfen, oder wollen Sie aufgeben? Ich denke nicht, dass Sie der Typ sind, der gerne aufgibt, schließlich sind Sie ein Navy Seal. Und wenn ich es geschafft habe, dann können Sie es auch schaffen, da bin ich mir sicher."

Christoph ist mehrere Minuten lang still. Er starrt die Decke an und eine seiner Hände hat sich in das Bettlaken gekrallt. Plötzlich läuft eine einzelne Träne aus seinem Augenwinkel über seine Wange. Er kneift die Augen zusammen und öffnet sie dann wieder. Sein Kopf dreht sich zu mir und plötzlich nickt er. Ein Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht und seine Augen leuchten ein bisschen. „Du hast Recht.", flüstert er. Anschließend ein wenig lauter. „Du hast Recht. Es liegt nicht in meiner Natur, aufzugeben." Einen Moment scheint er überrascht, dass er das gesagt hat, doch dann vertieft sich sein Lächeln. „Ja. Ich werde kämpfen.", sagt er mehr zu sich selbst. Ein unbeschreibliches Gefühl erfüllt mich. Ich kann es nicht genau beschreiben, aber auf jeden Fall ist es toll, ihm zumindest ein wenig geholfen zu haben. "Was machst du jetzt?", fragt Christoph. „Ich studiere Meeresbiologie. Am Hawaii Pacific College. Außerdem surfe ich wieder.", erzähle ich. „Du surfst? Ist das nicht sehr schwierig mit nur einem Arm?" „Ja, schon. Aber meine Freundin und ein Freund haben eine Lösung gefunden. Ich habe jetzt an jedem Board eine Art Griff und so kann ich mich besser festhalten. Das heißt, ich verliere das Board nicht so schnell und auch der Take-Off gelingt besser." „Und es ist kein Problem für dich, im Wasser zu sein? Schließlich hast du dort deinen Arm verloren." Ich streiche mir einmal durch die Haare. „Die Angst ist immer da uns sie wird auch nie ganz verschwinden. Aber ich musste einfach feststellen, dass ich ohne das Surfen nicht leben kann. Es ist ein Teil von mir geworden und es ist meine große Leidenschaft." Die Worte kommen direkt aus meinem Herzen. Es ist genau das, was ich fühle und es tut gut, das alles auszusprechen. „Hast du vor, wieder zur nationalen Spitze aufzusteigen?", fragte er. Langsam nicke ich. „Ich werde es zumindest versuchen. Wenn ich nicht gut genug bin, dann ist es so, aber dann habe ich es zumindest versucht und niemand kann mir einen Vorwurf machen, vor allem ich selber nicht." „Klingt vernünftig."

Kurz darauf klopft es an der Tür und so wird unser Gespräch unterbrochen. Poseidon steckt vorsichtig seinen Kopf herein und als er Christoph sieht, wie er aufrecht im Bett sitzt und sich mit mir unterhält, hellt sich sein Gesicht auf. „Soll ich wieder gehen?", fragt er schnell und will schon die Tür schließen, aber sein Freund erhebt das Wort. „Nein, komm ruhig rein." Also betritt er das Zimmer und stellt sich an das Bettende. „Du hast einen besonderen Jungen, Poseidon. Er hat mir so einiges klar gemacht. So etwas hätte ich nie von einem Achtzehnjährigen erwartet.", meint Christoph und lächelt ein wenig. Mein Vater sieht zu mir und lächelt mich stolz an. „Ich weiß.", ist seine einzige Antwort.

Eine halbe Stunde später verabschieden wir uns dann von Christoph. Ich schüttele ihm die Hand und er drückt kurz zu. „Danke.", sagt er voller Überzeugung. „Ich werde kämpfen. Und ich wünsche dir viel Glück und drücke die Daumen.", um seine Worte noch einmal zu bestätigen, zeigt er mir beide erhobene Daumen. Ich grinse. „Ihnen auch, Christoph." Anschließend verlassen wir das Zimmer und gehen den Gang zurück zum Aufzug. „Danke, Percy. Seit er wieder zurück ist, hat er nicht mehr so gut ausgesehen. Und es bedeutet mir viel, dass du das getan hast.", platzt er heraus. „Ich habe es gerne gemacht. Aber die eigentliche Arbeit kommt noch. Er wird es nicht leicht haben." „Nein, er wird es wirklich nicht leicht haben. Aber du hast zumindest seinen Kampfgeist wieder geweckt. Und das ist schon einmal ein Fortschritt.", erwidert Poseidon optimistisch. Inzwischen sind stehen wir vor dem Pflegeheim. Wenn mir im Januar jemand gesagt hätte, dass ich einem Kriegsveteranen, der außerdem ein Freund meines Vaters ist, wieder auf die Beine helfen würde, dann hätte ich gelacht. Aber nun habe ich das gemacht und ich kann es fast nicht glauben. Ich hätte nie gedacht, dass ich so eine große Wirkung auf jemanden haben könnte, aber auf Christoph hatte ich sie. Und ich wünsche ihm wirklich, dass er es schafft.

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