4B: Anis wartet zwei Stunden

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Wie angeordnet war Anis in Crows Versteck geblieben. Das Gebäude, in dem er sein Lager aufgeschlagen hatte, war strategisch gut gelegen und bot einen Überblick über das Gelände. Fast schon sehnsüchtig hatte sie ihm so lange hinterher geschaut, bis er von einer größeren Häuserfassade verdeckte wurde und dahinter verschwand.

Anis dachte ein wenig über ihr Zusammensein mit ihm nach und auch darüber, was Liebe eigentlich war. Man hatte ihr eingebläut, sie als Saint müsse jeden Menschen gleich stark lieben, doch das konnte sie nicht, denn für Sirius empfand sie stets mehr, als für alle anderen und dies übertrug sich nun auf Crow, der in ihrer Vorstellung so etwas wie ein gefallener Engel war. Sie erinnere sich mit einem warmen Gefühl im Herzen an Sirius' frühere Eigenschaften. Er war unvorstellbar mutig, lieb, aber auch hörig und auch leicht aus der Ruhe zu bringen. Je länger sie darüber nachdachte, desto besser verstand sie, was mit ihr passierte.

Bald würde sie sich selbst als gefallen bezeichnen müssen, denn ihr bis zum Hals pochendes Herz riet ihr, auch die körperliche Nähe dieses Mannes zu suchen. Sie wusste genau, wenn es jemanden gab, der sie zu Fall bringen konnte, dann ganz sicher er.

Die Zeit verging, zu viel Zeit, denn zwei Stunden mussten schon lange vorüber sein, nach denen er zurückgekehrt sein wollte. Es blieb ihr keine andere Wahl, als sich seiner Anweisung zu widersetzen und auf die Suche nach ihm zu begeben. Wenn er sich verspätet hatte, brauchte er sicher Hilfe.

Fest entschlossen das Richtige zu tun, verließ Anis das Lager. In den düsteren Schatten der Ruinen versteckt erspähte sie seinen mit Leichen gespflasternten Weg. Somit kannte sie die Richtung, in die er ging, doch dorthin, wo die Ruinen endeten und sich eine große Fläche mit unzähligen herumstreifenden Abyss Soldaten erstreckte, konnte sie ihm nicht folgen. Sie hielt sich am Rande der Ruinen auf und hoffte so trotzdem voranzukommen. Auf keinen Fall wollte sie noch einmal denselben Fehler begehen und die freie Ebene betreten, von der Crow sie aufgelesen hatte. Auch wenn die Dämonen behäbig wirkten, konnte Anis ihnen nicht lange genug davonlaufen.

Schnell stellte sie fest, dass Wille und Wirklichkeit nicht überein zu bringen waren. Obendrein befürchtete sie die Orientierung zu verlieren und entschied sich gerade dazu umzukehren, als ihr auffiel, dass sie gar keine Soldaten mehr auf der Ebene sah. Bald schon hörte sie ein Klirren, das dem Geräusch entsprach, wenn Metall auf Metall schmetterte.

Sie entschied sie sich nun doch die Freifläche zu betreten und den schmetternden Schlägen zu folgen, denn ihr Gefühl sagte ihr, dass dies Crows Schwerter waren, die auf Rüstungen von dämonischen Kriegern trafen. Schon bald sah sie ihn, ihren Krähenkrieger, zusammen mit mindestens dreißig Abyss Soldaten.

Crow hatte sich in seinem Hochgefühl übernommen und war selbstbewusst auf die Jagd gegangen. Er wusste, dass die Dämonen manchmal seltene Gegenstände mit sich führten, die er beim nächsten Mal gegen Nahrung eintauschen wollte, anstatt körperliche Dienste anbieten zu müssen. Immer wieder hatte er seine Gegner eine Weile hinter sich her gezogen, bevor er einen größeren Angriff ausführte, der im Idealfall mehrere von ihnen traf. Mittlerweile konnte er diese schiere Masse jedoch kaum noch in Schach halten. Gerade als er glaubte, die Flucht ergreifen zu müssen, erfasste ihn eine machtvolle Aura, die seinen Gliedern neues Leben einhauchte. Dann kam eine zweite, die ihn noch weiter stärkte, bis er sich umsah und Anis erblickte, die schon einige Stärkungszauber auf ihn gesprochen hatte und damit noch nicht fertig war.

Als ein weißes Licht den gesamten Platz zu erhellen begann, ganz so als würde neben ihm ein neuer Stern geboren, schlug er ein paar der Gegner zurück und fixierte die strahlende Verursacherin. Die Saint hielt die Hände im tiefen Gebet gefaltet. An ihrem Rücken bildeten sich halb durchsichtige Schwingen aus Licht, die sie ein Stück über den Boden schweben ließen, ganz so, als sei sie ein herabsteigender Engel. Die Kraft, die von ihr ausging, strömte geradewegs in seinen Körper hinein und erfüllte ihn mit einer unvergleichlichen Macht. Kaum war der Zauberspruch beendet, bildeten sich die engelsgleichen Flügel an ihrem Rücken zurück und die Saint landete wieder behutsam elegant auf ihren Füßen.

Er hatte sich kurz von der Schönheit dieses heiligen Zaubers blenden lassen, doch er musste schnell wieder zu sich finden, um nicht von den Gegnerhorden überrannt zu werden. Mit Leichtigkeit besiegte er die eigentlich übermächtigen Feinde, die nun sogar in ganzen Gruppen nach nur einem gezielten Schwertstreich barsten.

Was ihn da durchfloss, war nicht weniger als ein Teil der Macht Gottes, weitergereicht durch die Saint von Armonia an ihn, den unheiligsten aller Krieger, der selbst halb dem Abyss gehörte. Er wäre jede Wette eingegangen, dass ihn ein solcher Zauber von Innen heraus zerreißen würde, doch da stand er, kraftvoller als jemals zuvor. Auch wenn es ein Jammer war, seine Schwerter in diesem Rausch wegstecken zu müssen, tat er es. Er lief jedoch nicht zu seiner Unterstützerin, sondern blieb wie gebannt vor ihr stehen. Stattdessen kam sie ihm entgegen, fiel ihm mit einem warmen Lächeln um den Hals und hauchte:

„Oh, Crow. Ich hatte im Gefühl, dass du mich brauchst. Gott sei Dank ist dir nichts passiert."

Er brummte ablehnend, denn er dankte nicht Gott, sondern Anis, jener zarten Frau, welche die massive Kraft in sich trug, sogar einem Vergifteten den heiligen Segen zu schenken. Er sammelte einige seltene Gegenstände auf, die er bei den Leichen fand und kehrte mit ihr zu seiner Unterkunft zurück. Ihre Schönheit und Anmut während des Zaubers ging ihm nicht so schnell wieder aus dem Kopf.

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Einfach ganz normal weiterlesen mit dem finalen Kapitel 5.

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