Kapitel 4

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Langsam schlenderten wir wieder durch die Straßen. Versuchten Details auszumachen, die wir vielleicht übersehen hatten. Doch nichts. Grau in Grau. Poesie durch Monotonie.

Ein Gong ertönte und hallte durch die Straßen. Wenig später wurden überall die Türen aufgerissen und die Menschen, die sich in den Gebäuden befanden, strömten heraus.

Marcus und ich sahen uns ungläubig an. Was geschah da? Seine Smartwatch machte sich bemerkbar. Bzzz, bzzz.

„POKEMON GO - DIE TÄGLICHE JAGD IST ERÖFFNET." Unaufgefordert ließ er mich einen Blick auf den Display werfen. Aha! Wir folgten dem Menschenstrom, der in eine besondere Richtung strebte. Auf den Straßen befanden sich keine Fahrzeuge, so gab es genügend Platz für die Masse, die sich auf eine große Kreuzung umringt von Hochhäusern zuschob und einen Ring um einen Gullydeckel bildete. Durch ihre seltsamen Brillen starrten sie auf eine Position über dem Deckel. Ihre Augen zuckten von rechts nach links und von links nach rechts, teilweise folgten ihre Körper den Bewegungen. Obwohl jeder seinen eigenen Rhythmus hatte, wirkten sie doch irgendwie synchron. Unheimlich. Die Menschenmasse, in deren Mitte wir mittlerweile standen, wurde immer dichter. Ich begann, in meinem Shopper nach meiner Cat-Eye-Brille zu graben. Vielleicht konnte ich sie so einstellen, dass sie mir auch zeigte, was die anderen sahen. Während ich so kramte, stieß ich eine junge Asiatin, natürlich in grauer Kleidung, neben mir an. Sie kam aus dem Gleichgewicht und ihre Brille fiel zu Boden.

„Können sie nicht aufpassen!", fluchte sie. „Die Brille ist im Arsch und ich kann mir keine neue leisten bei meinem Level." Ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten böse, während sie sich durch ihr langes amber-farbenes Haar strich, das irgendwie etwas gebleicht aussah. Sie war maximal 1,55 Meter groß und sehr zierlich, was aber wohl nicht auf ihren Charakter zu traf, als sie mir ihren Arm in die Seite hieb.

„Nun mal ganz langsam, werte Dame. Es tut mir aufrichtig leid, sie angerempelt zu haben, aber in dieser Enge ist das durchaus nicht ungewöhnlich." Sie taxierte mich ab, dann Marcus und ihr Blick blieb seeeehr lange auf ihm hängen. War ja klar. „Wie sehen sie überhaupt aus? Sie wissen, dass es eine Strafe gibt, wenn man sie so erwischt?" Sie blickte mir direkt in die Augen und ihr Blick war beinahe tödlich. „Und ihre Sprache erst. So oll." Sie verzog verächtlich den Mund. Contenance! Ich konzentrierte mich auf mein gutes Benehmen. „Ich kaufe ihnen eine neue Brille. Neuestes Modell", bot ich als Entschädigung an.

Miss Japan sah mich ungläubig an: „Sie wissen nicht, was sie da reden. Für die neue iGlas 2982 Platin Edition muss ich ein ganzes Jahresgehalt hinblättern und ich verdiene nicht schlecht."

Die Menge begann sich zu zerstreuen. „Wir können gleich los und eine kaufen", wollte ich die Situation möglichst recht schnell hinter mich bringen. Schade, dass ich nicht gesehen hatte, was da virtuell über dem Gullydeckel zu sehen war.

„Na, wenn sie meinen. Wir haben Glück. Die tägliche Jagd ist noch nicht zu Ende. In der Mall dürfte es leer sein. Folgen sie mir."

Im Stechschritt trabte sie voran und wir betraten einen riesigen, rechteckigen Kasten, der eher an die Arche Noah erinnerte, aber „Die Mall" war. Nachdem wir einen Sicherheitsbereich durchschritten hatten, in dem wir auf Waffen und ansteckende Krankheiten gescannt wurden, eröffnete sich uns eine gigantische Halle mit Rolltreppen, gläsernen Fahrstühlen, zahlreichen Projektionen, die blinkten und mich ganz kirre machten. Automat reihte sich an Automat. Einer bunter und schriller als der andere. In der Mitte der Halle im Erdgeschoss stand ein goldener Automat, geschätzte 5x5 Meter mit zahlreichen Fächern, die Brillen in unterschiedlichen Größen, Styles und Funktionen enthielten. Bewacht von 6 KI's gab es dort auch das iGlass 2982. Marcus übernahm das Bezahlen mit seiner fortschrittlichen SmartWatch und wenige Sekunden später hielt Miss Japan ihre neue Brille in der Hand.

„Ich muss ja sagen, gut, dass sie mich angerempelt haben. Sonst hätte ich dieses Schätzchen hier nicht bekommen." Sie strahlte. „Vielen Dank und auf nimmer Wiedersehen", drehte sie sich auf dem Absatz um und verließ das Gebäude.

Marcus und ich wechselten einen Blick und zuckten mit den Schultern. Naja, wie auch immer. Thema erledigt. Wir zogen noch zwei weitere Brillen. Basismodelle mit langsamerem Prozessor, der schallgeschraubt dann doch etwas mehr hergab als alle anderen.

„Bereit?", fragte ich Marcus und sodann setzten wir die Brillen auf.

Die Realität verschwand und machte Platz für eine digitale Ansicht von allem, das täuschend echt aussah. Eine kurze Registrierung erfolgte. Dutzende von Informationen begannen kurz in Textform aufzuflackern, solange mein Blick etwas länger auf etwas verhielt. Hm. Ich sah Marcus an: Männliche Person, Größe 1,90 Meter, Haarfarbe:dunkelbraun, Augenfarbe: blau, Statur: athletisch, schlank,Körperfettanteil...." Sofort wandte ich meinen Blick ab. WAS!!! Was, wenn er das auch bei mir sah? Natürlich würde er das auch von mir sehen, sofern sein Blick länger auf mir verharrte. Oh Gott! Das gefiel mir aber nicht. Ich zog die Brille ab und blickte zu ihm hinüber. Sein Blick lag direkt...schluck... auf meiner Oberweite und seine Lippen umspielte ein enormes Grinsen. Er kicherte.

„Schenkelberg!", fauchte ich ihn an. „Das ist ja wohl die Höhe!"

Er zog die Brille ein wenig tiefer, so dass wir uns in die Augen schauen konnten: „Ja, das ist die Höhe. Sehe ich auch so." Er grinste noch breiter, sofern dies überhaupt möglich war, und brachte mich total aus dem Konzept. Ich schnaufte, setzte die Brille wieder auf, drehte mich um und ging.

Er murmelte: „Uh, das ist auch nicht schlecht."

„Du weißt schon, dass ich dich hören kann?", knurrte ich.

„Ich weiß und deswegen macht es mir gleich doppelt Spaß."

„Schenkelberg!" Wie gerne hätte ich meine Mähne wie Miss Piggy zurück geworfen und ein entsprechendes Geräusch gemacht. Doch leider waren die Haare wieder einmal hochgesteckt. Statt dessen blieb ich wie angewurzelt stehen, drehte mich um und glotzte ihm auf den Schritt.

„Das machst du jetzt nicht wirklich oder?", hakte er trocken nach.

„Wonach sieht es denn aus?", entgegnete ich süffisant und wandte den Blick schnell ab, als in meiner Sichtweite „Berechne Größe...erschien."

The Doctoress - Go! (9)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt