Kapitel 12

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Die Menschen auf den Rängen, die Popcorn mampften und 1,5 Liter-Becher koffeinhaltiges Erfrischungsgetränk über ihren Hosen verteilten forderten lauthalts eine Fortsetzung des Programms ein. Sie wirkten richtig irr auf mich.

Diesmal würden es definitiv keine Karpadore sein, mit denen wir so einfach fertig würden.

„Jetzt kommen wir zu einem wirklichen Highlight des Programms", verkündete die Stimme aus dem Off. „Nara ist bekannt für seine Hirsche und hier sind sie auch schon: Viel Spaß im Kaaaaammmmmmpf", dehnte der Sprecher das Wort, „geeeegeeeen: Damhirplex!" Die Menge johlte. Sie sahen Hirsche, soweit das Auge reichte. Diesmal waren es mehr Viecher als die 50 Menschen in der Arena. Die Tiere waren auch erheblich größer als eine Katze, sie hatten die tatsächliche Hirsch-Größe und sie besaßen Geweihe, riesige Geweihe.

Laut schnaufte ich aus. „Marcus, ich hab keinen Bock mehr. Und keinen Plan", blickte ich mutlos der Stampede entgegen, welche die Tiere beim Angaloppieren auf ihre „Feinde" darstellten. 

„Spezialattacke Tackle oder Zen-Kopfstoß", seufzte Miyu, die ebenso wie wir keine Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang der Situation hatte. In einer Wolke aus Staub kamen die Tiere kurz vor uns zum Stehen, scharrten mit den Hufen und senkten ihre Köpfe um mit ihren Nüstern hart in den Staub zu schnaufen. Dabei verursachten sie ein Geräusch, wie das metallische Meckern einer Ziege. Alle standen dieser Übermacht gebeutelt gegenüber, bis auf einen vorwitzigen Kerl, der sich mir nichts, dir nichts auf den Rücken des Pokemons schwang und sich am Geweih festhaltend auf einen wilden Ritt durch die Arena begab. „Yeeehawww!", brüllte er und die Menge johlte.

Nicht zwei Sekunden später saßen fast alle auf dem Rücken von einem Hirsch. „Los, Doctoress, rauf mit deinem Hintern", schob Marcus mich an, seine Hände fest auf meinem Hintern. Es war ein regelrechter Kampf, weil ich immer noch den engen Bleistiftrock trug, dessen rückwärtiger Schlitz sich prompt erweiterte, als ich versuchte mein Bein über den Rücken des Viehs zu bekommen. „Marcus? Sollte ich jemals lebend von diesem Hirsch herunter kommen, geh bitte dicht hinter mir. Yeeehaw!" Doch der Hirsch hatte nicht auf mein Kommando gewartet und war schon los galoppiert, als ich gerade meinen Ausruf gestartet hatte.

Weit kam er nicht. Obwohl das Pokemon irgendwie digital materialisiert war, schien ihm schon nach einer Runde die Puste auszugehen und... es legte sich ab. Ich dankte meinem Kampfgewicht und war motiviert für den nächsten Hirsch. Da der Schlitz im Rock schon erweitert war, war das Aufschwingen diesmal ähm... beinahe kein Problem. „Banzai!", rief ich und schnappte das Tier am Geweih, ein kleiner Sprung, ein geschwungenes Bein und ich saß bequem. Die Menschen in den Rängen warfen sich weg vor Lachen, denn meine Aktion wurde auf einem großen Monitor gezeigt. Aber auch die Produzenten der Show reagierten schnell und beendeten die Runde schneller als gedacht.

Es machte leise: „Puff!" und der aktuelle Hirsch verschwand unter mir. Die Landung auf meiner gut gepolsterten Kehrseite war dafür etwas unsanft. „Alles ok?", stand Marcus sofort an meiner Seite und half mir auf. „Ok. Ich sehe, was Sache ist. Schöne Unterwäsche übrigens. Hätte nicht gedacht, dass du halterlos trägst?!", begann er sein T-Shirt auszuziehen um es mir dann in den Rockbund zuklemmen. Dafür zeigten ihn jetzt die Monitore in Großaufnahme und die Weiber kreischten: „Mister Sixpack! Ich will ein Kind von dir!"Marcus nahm es amüsiert zur Kenntnis, war aber nur um mein Wohl besorgt. Wieder rollten die Voltobals an und im Zuge des Getriebenwerdens, erschien auch Miyu wieder an unserer Seite, die ein fettes Grinsen in ihrem Gesicht trug, als sie Marcus entdeckte.

„Kann ich dich für unser Team anwerben?", fragte sie noch etwas atemlos vom letzten Ritt auf dem Hirsch und blickte Marcus fasziniert an.

„Ich fürchte, daraus wird nichts, Miyu. Ich habe den besten Job der Welt. Mit der besten Chefin, die man sich vorstellen kann", warf er mir einen Blick zu, in dem mehr steckte, als ich in diesem Moment auch nur erahnen konnte. Doch wieder war etwas seltsam mit ihm. Er fror ein. Wie schon des Öfteren in der letzten Zeit. Er war nicht ansprechbar und völlig desorientiert.

„Marcus?" Ich versuchte es ihn wieder in die Realität zu bekommen und berührte ihn am Arm. Mit seltsamer, rauchiger Stimme, in der eine gewisse Gier steckte, sagte er: „Duuuuu." Dabei zog er das Wort in die Länge und es wirkte alles in allem sehr sinnlich. Seine Arme packten mich und er schenkte mir einen Kuss, der sich gewaschen hatte. Ich konnte ihn nur halb genießen, denn ständig fragte ich mich, was hinter diesem seltsamen Verhalten steckte, und mir wäre es tausendmal lieber einen solchen Kuss von ihm zu empfangen, wenn er bei sich war. Während er mir sanft seine Lippen entzog, schien er wieder zu sich zu kommen. „War ich wieder nicht ich selbst?"

Ich nickte.

„Ich habe dich geküsst, nehme ich an?", versicherte er sich seines Verhaltens.

„Ja, hast du."

„Okay", blickte er mich fragend an.

„Es ist in Ordnung", strich ich ihm sanft über die Wange. „Wir müssen in der Sache was unternehmen, aber zuerst diese hier Überleben."

Unsere Hände suchten sich und wir wurden von den Frauen im Publikum ausgebuht, die sich ihre Chancen bei ihm ausgerechnet hatten.

Wenig später diskutierten wir in unserer Kugel über den Verlauf des Kampfes. Miyu saß am Boden und fuhr sich kopfschüttelnd mit der Hand durch das Haar. „Bis jetzt ging es ja noch. Was meint ihr, wenn wir erstmal auf die starken Pokemon treffen. Anscheinend gibt es da eine gewisse Rangfolge. Sie haben mit was billigem angefangen und steigern sich."

„Welche sind denn die starken und was können die?", wollte ich von der Expertin wissen.

„Letarking, Mewtu, Kyogre um nur mal ein paar zu nennen. Mir graut es schon davor", atmete sie tief aus. „Aber das wird nicht das nächste sein, was kommt. Wer weiß, vielleicht haben sie ja auch was neues am Start, dass wir noch nicht kennen?"

„Na du machst uns ja Hoffnung", stöhnte Marcus und polterte mit der Faust gegen die Wand der Kugel.

„Es nützt nichts uns vorher den Kopf darüber zu zerbrechen, was kommt. Das können wir schlicht nicht absehen. Wir müssen flexibel reagieren, was auch immer geschieht. Was ich mich nur frage ist, wie sie das hinbekommen, dass sich ein Digitalisat so lebensecht verhält. Oder ist es gar keines und man beamt echte Pokemon, die im Labor gezüchtet wurden, in die Arena und aus ihr heraus, wenn man merkt, dass der Kampf verloren ist?", grübelte ich.

„Und was auch interessant ist: Nach welchem Schema wurden die menschlichen Kämpfer aus der Arena ausgesucht? Das ist nicht wahllos passiert", überlegte Miyu laut.

Marcus schaute sie interessiert an. „Ja, du könntest recht haben."

Wir sinnierten über Dinge, die wir derzeit nicht beantworten konnten, und kamen zu keinem Ergebnis. Zu viele Unbekannte und Variablen machten es schlicht unmöglich.

Die Pause bis zum nächsten Kampf war diesmal sehr lang. So lang, dass wir schon begannen zu hoffen, dass es keinen mehr geben würde. Aber leider öffnete sich die Tür zum Flur dann doch. Wieder wurden wir ganz uncharmant aus der Kugel geworfen und traten einen schweren Gang in die Arena an.

The Doctoress - Go! (9)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt