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Valerie

Jemand störte mich beim Mittagessen, indem er sich zu mir setzte. Gerade eben noch hatte ich meine heiße Suppe in vollen Zügen genießen können, allein. So wie es gut war. Aber natürlich war es mir nicht vergönnt eine ruhige Freistunde zu haben. Mein Kopf war noch über den Suppenteller gebeugt, durch meine lockigen Strähnen erspähte ich zwei zierliche Hände mit sorgfältig lackierten Nägeln, deren Daumen sich umeinander drehten. Sue.

„Was willst du, Sue?“, fragte ich missmutig. Erstens hatte ich sie nicht gebeten, hier Platz zu nehmen, und zweitens hatte ich sie schon mit Summer zusammen gesehen, vielleicht führte sie also etwas im Schilde. Auf der anderen Seite schein sie eher nervös und eingeschüchtert zu sein. „Woher wusstest du, dass ich es bin?“, ich hatte sie verwirrt, „Ach, egal. Was ich eigentlich sagen wollte… Ähm … Ich würde gerne etwas mit dir besprechen.“ „Und was?“, ich zog eine Augenbraue hoch. Sie lächelte. Ein ausgesprochen süßes Lächeln. Ich ließ mich nicht erweichen, sie wollte mich täuschen. Und nachher würde irgendeine Falle zuschnappen.

„Nicht hier, okay? Nach dem Unterricht hinten bei den Kunstsälen. Weißt du wo das ist?“ Bedächtig nickte ich. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich die Schule besser kannte als jeder andere Schüler und auch Lehrer, obwohl ich wie sie im ersten Jahr war. Das Erkunden des Schulgeländes gehört zu einer meiner Lieblingsbeschäftigungen. „Also bis dann!“, sie erhob sich und eilte davon. Ihre roten Haare wallten um ihre Schultern. Stirnrunzelnd sah ich ihr nach.

Mein Blick schweifte zu Liam. Er blödelte mit seinen Freunden herum. Ich seufzte und musste die Tränen zurückhalten. Ich hatte ihn verloren. Mein Verhalten am Ball war daneben gewesen. Außerdem sah mich Liam jetzt nicht mehr im selben Licht, dabei zählte er doch zu den wichtigsten Personen in meinem Leben. Ich hatte das nicht so geplant. Natürlich hatte ich Summer verletzen wollen, aber Liam hätte es nie erfahren dürfen. Dennoch was geschehen ist, ist geschehen. Ich konnte es nicht mehr ändern, musste aber versuchen es wieder gut zu machen.

Irgendwie war ich ja schon neugierig, was Sue wollte, ließ mir aber nach der letzten Unterrichtsstunde absichtlich Zeit und nahm einen Umweg. Lieber warten lassen, als selbst warten. Außerdem würde es dann so rüberkommen, als ob es mir egal war und ich überhaupt kein Interesse hätte. Und sollte das eine böse Überraschung sein, würde ich sehen, wer oder was mich erwartete.  

Langsam spähte ich um die Ecke besagten Ganges. Sue stand dort und schaute glücklicherweise in die andere Richtung, sonst hätte sie mich ja entdeckt. Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen. Die untergehende Sonne sendete Strahlen durch die Fenster und bemalte Boden und Fenster mit goldenen Mustern. Staubpartikel tanzten im Licht. Sues ohnehin schon wunderschöne Haare glänzten in einem Kupferton, der unbeschreiblich war. Nicht so wie meine langweiligen, karottenfarbenen.

Ich näherte mich ihr. Dabei wendete ich das Schattenlaufen an, etwas, das ich erfunden hatte. Es war eigentlich ganz leicht: Man musste leise sein und lernen die Unachtsamkeit der Menschen abzuschätzen und auszunutzen. Und sie waren ja so oft unkonzentriert. Ich schlich mich also an sie heran und erst als ich direkt hinter ihr stand, räusperte ich mich. Erschrocken drehte sie sich zu mir um: „Warum musst du das immer machen?“ Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Es gab mir ein Gefühl der Überlegenheit, aber das würde wohl niemand anderes verstehen.

„Also“, ich zog das Wort in die Länge, „was gibt’s?“ Sue blickte einen Moment auf ihre Füße ehe sie ihre grünen Augen auf mich richtete. „Ich wollte eigentlich…“, ihre Stimme begann zu zittern und sie setzte neu an: „Ich weiß, dass wir uns so gut wie gar nicht kennen, aber das möchte ich ändern. Ähm, i-ich meine, wir könnten garantiert gute Freunde werden, a-aber ich wusste nicht, wie ich dich ansprechen soll und-“ Sie redete noch weiter, aber ich hörte ihr nicht weiter zu. Viel lieber musterte ich ihr Gesicht. Leicht gerötete Wangen, warme Augen und schöne, volle Lippen. „Warum sagst du denn nichts?“, fragte sie kläglich. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste sie. Kurz und flüchtig und ohne wirklich nachzudenken. Zwei Sekunden später wurde mir erst bewusst, was ich da tat. Mit weit aufgerissenen Augen zuckte ich zurück und ‚schattenlief‘ davon.

Verwirrt setzte ich mich in eine abgelegene Ecke, zog die Beine an den Körper und kniff ganz fest die Augen zu. Was hatte ich da getan? Und wieso hatte ich es gewollt? Ich fühlte mich irgendwie betäubt, aber auch seltsam verletzlich. Und verwirrt war ich auch noch. Empfand ich tatsächlich etwas für Sue? Und sie auch für mich? Wie konnte es sein, dass ich von meinen eigenen Gefühlen keine Ahnung hatte?

Es fiel mir schwer, nicht zu wimmern und hin und her zu wippen. Nach einer langen Zeit erhob ich mich und richtete mich zu voller Größe auf. Meine oberste Regel war schon immer: Komm mit dir selbst klar, sonst haut gar nichts hin. Ich würde das noch weiter ergründen. All die Jahre hatte ich immer geglaubt, ich wäre an anderen Jungs nicht interessiert, weil Liam für mich der einzige war, aber es schien, als hätte ich da falsch gelegen.

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