2.

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Sue

„Lauf nicht weg, nein!“, rief ich und rannte Valerie hinterher. Ich hatte mit ihr reden wollen, über gestern. Aber es hatte den Anschein, dass sie nicht wollte. Doch ich glaubte, dass wir mussten. So etwas konnte man nicht einfach totschweigen. Valerie war anderer Meinung, aber ich würde nicht zulassen, dass sie mir jetzt entwischte. Wir bogen um die nächste Ecke und stürmten den Gang entlang. Leider musste ich feststellen, dass ihr Vorsprung immer größer wurde. Eigentlich war ich nicht unsportlich, aber, obwohl sie kürzere Beine hatte als ich, konnte Valerie ganz schön schnell rennen.

Sie flitzte um eine weitere Ecke und in ein Treppenhaus. Keuchend hielt ich einen Moment inne und lauschte. Ihre eiligen Fußschritte waren über mir zuhören. Also sprintete ich die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. „Valerie!“, schrie ich oben angekommen und lief ihr nach. Sie blickte nicht mal zurück. „Bleib stehen!“, dachte ich energisch und versuchte sie zu beeinflussen. Valerie zuckte zusammen, stolperte kurz, konnte sich aber fangen und raste weiter. Sie musste einen wirklich starken Geist haben. „Bitte warte!“, versuchte ich herauszubringen, war aber inzwischen völlig außer Atem.

Entkräftet setzte ich mich an die nächstgelegene Wand und ließ den Kopf hängen. Ich hatte unbedingt mit ihr sprechen wollen. Denn ich war verwirrt. Aber ich wusste, dass ich sie sehr gern hatte, auch wenn wir uns kaum kannten. Dann hatte sie mich einfach geküsst und das hatte meine Welt auf den Kopf gestellt. Und jetzt floh sie vor mir. Das fand ich ganz schön deprimierend. Außerdem hatte ich seit gestern diesen nervigen Ohrwurm. Ich hatte schon wieder angefangen zu summen, ohne dass ich es wirklich bemerkte.

Das Lied war so perfekt, als hätte Amy Winehouse Valerie gekannt, was ja nicht möglich war. Aber dennoch… „'Cause since I've come on home, Well, my body's been a mess, and I miss your ginger hair, and the way you like to dress…“ sang ich vor mich hin und musste lächeln. Orangefarbene Haare und ein süßer Kleidungsstil, das war Valerie. An den Wochenenden, wenn sie keine Schuluniform trug, war mir das schon aufgefallen. „Du kannst gut singen“, lobte da jemand. Ich blickte auf. Valerie stand vor mir und lächelte schüchtern. „Stimmt doch gar nicht“, winkte ich ab, musste aber ebenfalls lächeln, weil ich es schön fand, dass sie hier war. Sie ließ sich neben mir nieder: „Doch, das stimmt und wunderschöne Haare hast du auch noch.“ „Danke schön, aber deine sind doch viel hübscher. Locken sind toll“, erwiderte ich und hätte gerne mit einer ihrer Strähnen gespielt, traute mich aber nicht.

Valerie schüttelte energisch den Kopf: „Deine sehen tausendmal besser aus.“ „Nein, deine!“, entgegnete ich sofort. „Nein, deine! Sieh es doch ein!“, rief sie. Unsere Blicke begegneten sich und wir mussten beide lachen. „Ich bin doch bloß ein ‚Ginger‘“, sagte sie dann, ihre blauen Augen funkelten belustigt. „Und ich bin ein Rotschopf“, grinste ich, „man könnte mich als Hexe verbrennen lassen…“ „Rotschopf gefällt mir“, kicherte Valerie und da schob sich ihre schmale Hand plötzlich in meine. Meine Finger verschränkten sich mit ihren. „Ach, halt doch die Klappe, Ginger“, sagte ich lachend, stand auf und zog sie hoch, „Komm, wir gehen ein bisschen spazieren.“

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