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Lucas

Das letzte, was ich sah, war ein Truck, der mit meinem Wagen kollidierte. Ein lauter Knall ertönte und ich verlor das Bewusstsein. Warum war ich so dumm gewesen und hatte das Auto meiner Eltern genommen, obwohl ich viel zu jung war, um überhaupt einen Führerschein zu besitzen? Jetzt war es sowieso zu spät. Ich war tot und in irgendeiner Art Zwischenwelt gefangen, aus der es anscheinend keinen Ausweg gab. Obwohl hier weit und breit keine Uhr zu sehen war, vernahm ich einen kurzen, sich immer wiederholenden Piepton, der mich langsam wahnsinnig werden ließ. War das hier meine von Gott auferlegte Bestrafung? Eigentlich glaubte ich nicht an ein Leben nach dem Tod, aber das hier war der Beweis, das es existierte. Ich fühlte mich, als wäre ich in meiner persönlichen Hölle gefangen. ,,Wie habe ich das nur verdient?", rief ich verzweifelt ins Nichts. Meine Stimme hallte an den weißen Wänden des endlos langen Ganges wieder. Egal wie lange ich lief, ich kam nie an ein Ende oder fand eine Tür, die mich möglicherweise in die Welt der Lebenden hätte zurückbringen können. 

Es war schwer zu sagen, wie viele Stunden, Tage oder Wochen ich nun schon in dieser Welt feststeckte, da ich jegliches Gefühl für Zeit verloren hatte. Ich verspürte weder den Drang etwas zu essen, noch etwas zu trinken, was ich zu meiner eigenen Überraschung nicht als beängstigend empfand. ,,Werde ich hier jemals herauskommen?", fragte ich wieder in die Leere. Natürlich bekam ich keine Antwort, aber das Reden half mir, nicht vollends den Verstand zu verlieren. In der Zeit, in der ich schon hier war, hatte ich über viele Dinge nachdenken können. Zum einen vermisste ich meine Eltern, aber zum anderen war ich immer noch sauer auf Nathan. Worüber hatten wir uns eigentlich gestritten? Mein großer Bruder hatte gemeint, dass unsere Eltern ihn viel lieber mochten, was in mir eine Mischung aus Wut und Traurigkeit hatte aufkommen lassen. Rückblickend war es aber meine eigene Schuld gewesen, da es meine (dumme) Entscheidung gewesen war, das Cabrio meines Vaters zu stehlen, was letztendlich zu einem tödlichen Unfall geführt hatte. Jetzt machte es auch keinen Sinn mehr, sich den Kopf über vergangene Dinge zu zerbrechen. Trotzdem fragte ich mich, aus welchem Grund ich in dieser Zwischenwelt gefangen war. War etwas schief gelaufen, als ich bei dem Unfall starb? War ich vielleicht noch gar nicht tot? Aber wenn ich noch leben würde, warum setzten meine natürlichen Körperfunktionen aus? Tausend Fragen tauchten in meinem Kopf auf, aber leider war ich nicht imstande auch nur eine von ihnen zu beantworten. Vielleicht war ich hier, um über meine Taten nachzudenken und somit meinen Seelenfrieden zu finden. Nathan konnte von Zeit zu Zeit wirklich ein fieser Mensch sein, aber trotz allem war er mein großer Bruder, der mir immer geholfen hatte, wenn ich bei etwas Hilfe brauchte. Außerdem hatte er Mum nie verraten, dass ich es war, der ihre kostbare Vase zerbrochen hatte, und für mich die Schuld auf sich genommen, was zugegebenermaßen ziemlich ritterlich gewesen war, wenn man so darüber nachdachte. Nathan hatte nicht nur schlechte Seiten an sich, sondern konnte auch der coolste Bruder der Welt sein! Wieso war ich eigentlich auf ihn sauer gewesen? Wir hatten uns wegen einer Kleinigkeit in die Haare gekriegt, die mich letztendlich das Leben gekostet hatte. Als ich ihn mir an meinem Grab vorstellte, wie er trauerte, überkam mich ein Reuegefühl. Ich bereute, dass ich ihm so etwas angetan hatte. Warum konnte ich ihn nicht ein letztes Mal noch sehen, um ihm zu sagen, wie Leid es mir tat und, dass ich ihm verzieh? ,,Ich will zurück! Ich will meinen großen Bruder sehen! BITTE!", schrie ich die weißen Wände an, aber nichts passierte. Ich konzentrierte mich auf meinen Körper. Irgendetwas musste ich doch versuchen, um aus dieser Welt zu verschwinden. Als ich meine Augen schloss, stellte ich mir vor, wie ich mit Nathan spielte. Seine Augen lachten und ich freute mich, dass mein großer Bruder Zeit mit mir verbrachte, obwohl er doch wichtigeres zu tun gehabt hätte. Nichts weiter als eine Projektion meines Gedächtnisses - eine Erinnerung. Kurz öffnete ich die Augen, um zu überprüfen, ob sich etwas verändert hatte, aber noch immer saß ich in diesem weißen Gang fest. Als ich die Augen wieder schloss, versuchte ich anders an die Sache heranzugehen. Ich setzte all meine Konzentration auf jede meiner Körperzellen. Ein Schmerz durchfuhr mich, als ich meinen Geist auf meine Wunden lenkte. Wieso spürte ich Schmerzen, wenn ich doch allem Anschein nach tot war? Ich konzentrierte mich auf die Wunden in meinen Beinen und versuchte den Schmerz zu lindern, was mir glücklicherweise gelang. Das gleiche tat ich mit meinen Armen, meinem Hals und meinem Kopf. Besaß ich in dieser Welt magische Fähigkeiten? 

,,Er ist aufgewacht! Holt jemand schnell den Doktor?" - ,,Doktor Smith, sein Zustand hat sich schlagartig verbessert! Sehen sie sich ihn an!" Was waren das für Stimmen? Waren andere Leute gestorben und genauso wie ich in diesem Gang gefangen? Wenigstens war ich nun nicht mehr alleine und hatte jemanden mit dem ich mich unterhalten könnte. ,,Lucas, bist du wach?", fragte mich eine angenehm klingende Männerstimme. Woher kannte er meinen Namen? Zögernd schlug ich die Augen auf und schaute in die Augen eines bärtigen Mannes, der einen weißen Arztkittel trug. Für einen Moment dachte ich, es sei Gott, aber Gott würde sich niemals mit einem Stetoskop um den Hals über einen Jungen beugen, um dessen Herzschlag und Vitalfunktionen zu überprüfen. ,,Lebe ich?", fragte ich geschockt. ,,Definitv. Du hast einen großen Schutzengel gehabt! Um ehrlich zu sein, hatten wir nicht mehr damit gerechnet, dass du je wieder aus dem Koma aufwachen würdest. Ein unerklärliches medizinisches Wunder ist geschehen!" Mit einem Lächeln auf den Lippen fiel ich erschöpft in einen Traumzustand zurück. Wenn ich aufwachte, würde ich noch genug Zeit haben über das, was gerade passiert war, nachzudenken.

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