12.

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Spring

„Bist du soweit?“, flüsterte ich aufgeregt, meine rechte Hand schon auf der Türklinke. „Ich weiß nicht“, antwortete Sunshine und als ich mich zu ihr umdrehte, konnte ich Aufregung aber auch Bedenken in ihrem Gesicht erkennen, „Was wenn er aufwacht? Oder sein Zimmergenosse?“ „Dann tarnen wir uns eben!“, schlug ich vor und nahm das Aussehen der Maus an. Meine Schwester tat es mir gleich. „Siehst du, jetzt kann uns nichts passieren. Und außerdem: Wie wahrscheinlich ist es denn bitte, dass sie mitten in der Nacht noch auf sind?“ Sunshine zuckte mit den Schultern: „Man kann nie vorsichtig genug sein…“ „Genau“, bestätigte ich, „Und weil wir so vorsichtig sind, gehen wir lieber hinein, bevor uns noch ein Lehrer, der kontrolliert, erwischt. Hast du das Fläschchen?“ Statt einer Antwort hielt sie es mir vor die Nase. Einen Moment lang betrachtete ich die schwarze, schimmernde Flüssigkeit, die im Licht der Taschenlampe noch faszinierender wirkte, als bei Tag. Magische Tinte.

Wir hatten sie uns auf clevere Weise beschafft. Nach dem letzten AG Treffen, waren wir am Ende noch zu Mr. McEvans gegangen, weil wir wussten, dass er die Tinte immer in seiner Tasche mit sich trug – er hatte sie uns einmal präsentiert. Sunshine hatte das Ablenkungsmanöver gestartet und den Lehrer nach irgendetwas gefragt. Was es gewesen war, wusste ich schon gar nicht mehr genau, wahrscheinlich zu den Sicherheitspatrouillen. Jedenfalls hatte sie sich – wie vorher abgemacht – so hingestellt, dass Mr. McEvans seiner auf dem Pult liegenden Tasche den Rücken zudrehen musste, um mit meiner Schwester zu reden. Daher hatte ich so ungefähr eine Minute Zeit gehabt, den begehrten Gegenstand zu finden und an mich zu nehmen. Ich würde das nicht als Diebstahl bezeichnen, schließlich werden wir sie ihm später wieder zurückgeben. Und unerlaubtes Ausleihen ist ja an sich nichts Schlimmes, das macht Summer auch ständig. Außerdem hat Mr. McEvans bestimmt noch mehr solcher Tintenfässer, sollte er dringend eines brauchen.

Wir jedenfalls brauchten diese Tinte dringend, für die geplante Racheaktion. Mit normaler Tinte würde es nicht funktionieren, die ließe sich viel zu leicht entfernen. Und das wollen wir ja nicht. Denn dieser Ian hatte wirklich einen Vergeltungsschlag verdient. Er war so ein widerlicher und verabscheuenswürdiger Mensch. Da das unserer Meinung nach jeder wissen sollte, hatten wir uns diesen tollen ‚Streich’ ausgedacht. Ich freute mich schon, die Reaktionen darauf am morgigen Tag zu sehen. Alle würden sich fragen, warum er so herumlief und ihn hoffentlich aufs Äußerste darauf aufmerksam machen. Ich wollte, dass er sich in Grund und Boden schämte und am besten noch von allen geächtet wurde. Sunshine ging es genauso, da war ich mir hundertprozentig sicher. Denn niemand tat unserer kleinen Schwester etwas an, ohne dass es ein Nachspiel hatte!

Ich wechselte einen letzten Blick mit Sunshine, dann drückte ich sachte die Klinke herunter und schob langsam die Tür auf. Es war stockdunkel, da die Taschenlampe nun aus war, aber zum Glück hatten die beiden Jungen, die hier wohnten, weder Rollladen noch Vorhänge zugemacht und so fiel ein kleines bisschen Mondlicht durch das Fenster. Schade eigentlich, dass heute nicht Vollmond war.

Wir schlichen hinein, bedacht darauf, keinen Mucks von uns zu geben. Im vorderen Bett schlief ein Junge mit blonden Locken, den ich nicht kannte, im hinteren Ian – unser Opfer. Wir nickten uns gegenseitig zu und gingen weiter zu dem Bett. Ich kam mir vor wie eine Geheimagentin und das war ziemlich cool. Ian lag auf dem Rücken und seine Oberlippe zuckte gelegentlich. Wenn man ihn so schlafend sah, wirkte er einfach wie ein normaler Teenager – eigentlich sogar recht gutaussehend, wenn auch nicht so toll wie Travis. Vielleicht wäre es ja gut, wenn er für immer schlafen würde. Oder noch besser: entschlafen. Erschrocken verbat ich mir diesen Gedanken, das ging wirklich zu weit.

Sanft strich Sunshine ihm die Haare aus der Stirn. Währenddessen hielt ich erschrocken die Luft an, hoffentlich würde diese Berührung nicht wecken! Aber Ian schlummerte seelenruhig weiter. Erleichtert atmete ich aus. Meine Zwillingsschwester zog den kleinen Korken von der Flasche und tunkte ihren Zeigefinger in die magische Tinte. Sie färbte ihre Fingerspitze blau-schwarz. „Mist“, wisperte sie, „Wie soll ich das denn von MEINEM Finger abbekommen?“ Am liebsten hätte ich einen Fluch ausgestoßen, daran hatten wir nicht gedacht. „Egal“, gab ich zurück, „Du machst dir einfach ein Pflaster drum, dann merkt es keiner…“ Sie nickte und begann Buchstaben auf Ians Stirn zu malen.

S.

Er bewegte den Kopf leicht zur Seite, machte aber nicht die Augen auf.

C.

Sunshine musste neue Tinte nehmen.

H.

W.

E.

Ein seltsames Grunzen ertönte vom Nachbarbett und ich betete inständig, dass der Typ nicht aufgewacht war.

I.

N.

Sie war fertig. Und man konnte es sogar im Dunklen perfekt lesen. Ob das ein Effekt der magischen Tinte war, neben dem, dass man sie frühestens drei Tage nach dem Auftragen entfernen konnte? Jedenfalls würden es morgen alle sehen können.

„Jetzt noch das T-Shirt“, erinnerte sich Sunshine, die aufgestanden war. Ich grinste ihr zu und marschierte zum Schrank. Hastig wählte ich ein weißes Oberteil und warf es meiner Schwester zu. Sie befeuchtete ihren Finger abermals mit der Tinte. ‚Passt auf, ich bin ein Widerling‘, schrieb sie in geschwungen Buchstaben darauf. Dann verkorkte sie das Fässchen wieder. Ich legte das T-Shirt zusammen und verstaute es im Schrank. Dann packte ich alle übrigen Oberteile und belud mich damit. Schließlich wollten wir, dass er unser tolles, vorbereitetes auch ja morgen anzog. Das andere würde er dann später wieder an dem rechtmäßigen Ort vorfinden.

Ich konnte Sunshine genau ansehen, dass sie mich am liebsten ausgelacht hätte, wahrscheinlich sah ich aus wie ein Packesel. Das würde sie mir garantiert gleich draußen vorhalten. Ich wusste es genau. Wir wussten oft, was die jeweils andere dachte. Sie biss sich auf die Unterlippe, um ein Kichern zu unterdrücken, ich streckte ihr die Zunge raus. Dann rissen wir uns aber wieder zusammen, denn wir mussten langsam mal verschwinden, schließlich war es schon fast drei Uhr und wir sollten schon längst im Bett sein. Wir verließen den Raum und Sunshine schloss die Tür hinter uns. „Unheil angerichtet“, flüsterte sie und wir mussten beide lachen.

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