17.

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Molly

Es gibt ja den Ausdruck ‚Du hast meine Welt auf den Kopf gestellt‘. Meistens ist damit gemeint, dass eine Person völlig unerwartet und plötzlich in das Leben einer anderen geplatzt ist und jetzt alles für ihn oder sie bedeutet.

Eine andere Bedeutung ist aber auch, dass einem auf einmal etwas unterbreitet wird, das wortwörtlich die ganze Weltansicht auf den Kopf stellt. Man fragt sich, wie so etwas sein kann, ohne dass man davon wusste. Man ist verwirrt und weiß nicht, ob man der Person, die das erzählt hat, wirklich glauben kann. Man ist sprachlos, weil man so viel Wissen auf einen Schlag verpasst bekommen hat. Und man spürt plötzlich eine riesige Verantwortung auf sich lasten, da man das Geheimnis bewahren muss.

Warum ich das so genau weiß? Ist das nicht klar? Ich habe es selbst erlebt. Denn auch wenn ich sagen könnte, dass mein Freund Adam meine Welt auf die erste Weise auf den Kopf gestellt hat – ich liebe ihn nämlich mit ganzem Herzen – ist doch die zweite Variante noch treffender. Was er mir vorgestern gestanden hat, ist das Unfassbarste, das ich je gehört habe:

Zwei Hände legten sich über meine Augen, sodass ich nichts mehr sehen konnte. Sie waren warm und weich. „Adam?“, fragte ich, schließlich war ich hier mit ihm verabredet. „Falsch!“, antwortete eine Stimme vergnügt, die ich nicht kannte. Wer konnte das sein? Ich fühlte mich etwas unbehaglich. Warum würde ein Fremder mit mir dieses Ratespiel spielen? „Wer dann?“, wollte ich wissen. Die Person lachte, nahm ihre Hände von meinem Gesicht, legte sie auf meine Schultern und drehte sich zu mir. „Also wirklich“, sagte Adam, „Warum erkennst du denn deinen Freund nicht?“ „Weil du deine Stimme verstellt hast, du Intelligenzbolzen“, schoss ich zurück und grinste zufrieden. Normalerweise war ich ein ziemlich schüchternes Mauerblümchen, aber bei Adam kannte ich keine Scheu, ich vertraute ihm.

„Hey, nur weil ich ein besonderes Talent habe, musst du mich nicht gleich fertigmachen“, jammerte er und tat so als würde er gleich weinen. Seine Augen aber funkelten amüsiert. Es gefiel ihm, wenn ich aus mir herauskam. Ich rollte mit den Augen: „Dann wunder dich nicht, warum ich dich nicht erkenne, Schlaukopf.“ „Ich mag es, wenn du versuchst, mich zu beleidigen“, grinste er und küsste mich, ehe er meine Hand nahm. „Lass uns losgehen!“

Wir trafen uns nämlich fast jeden Tag nach der Schule und gingen eine Stunde draußen spazieren. Bei jedem Wind und Wetter. Hatte sich so als Tradition eingebürgert. Heute regnete es zum Glück nicht und es waren auch nur vereinzelt Wolken am Himmel zu sehen. Wir gingen den geschotterten Weg entlang, blödelten herum und genossen die Zeit zusammen. Wie eigentlich immer steuerten wir den Wald an. Dabei kamen wir an der Reithalle und den Stallungen vorbei.

„Oh!“, rief ich aufgeregt, „Die Pferde sind auf der Weide! Komm!“ Ich zog Adam in Richtung der Weide. Er lehnte sich zurück und machte es mir schwer, ihn voranzubringen: „…Ich glaube das ist keine gute Idee…“ „Bitte!“, ich drehte mich zu ihm um und war erstaunt über seinen nervösen Gesichtsausdruck. Hatte er Angst vor Pferden? „Nur kurz, ok? Ich möchte Prince Hallo sagen!“ Wir sahen uns einen Moment lang schweigend an, dann wurden sein Gesichtsausdruck weich und er seufzte: „In Ordnung.“ „Du musst auch keine Angst haben. Sie sind ganz lieb!“, versprach und endlich ließ er sich mitziehen.

Angekommen ging ich in die Knie und rupfte ein paar der verbliebenen Grashalme aus dem Boden. Prince, Hestia und Little Joe waren schon neugierig näher gekommen und ich bat ihnen das Gras auf der flachen Hand an. Adam stand derweil neben mir und wirkte verkrampft. Seine Lippen waren fest aufeinander gepresst. „Alles okay?“, fragte ich besorgt. Er nickte. „Schau“, erklärte ich, „Das ist das Pferd, das ich reite. Prince.“ Ich strich dem Schimmel über die Nüstern, während er die Halme von meiner Hand klaubte. Die anderen beiden drängten heran, sie wollten auch etwas abhaben. Dabei war das doch nur stinkgewöhnliches Gras.

„Warum fütterst du sie nicht auch?“, schlug ich vor. Mein Freund schüttelte den Kopf und flüsterte: „Ich glaube, das sollte ich nicht machen…“ Er sprach so leise, dass ich ihn kaum verstand. Princes Kopf fuhr ruckartig in die Höhe. Er blähte die Nüstern auf und richtete die Ohren aufmerksam in Adams Richtung. „Was ist denn jetzt los?“, murmelte ich. Adam sah mich erschrocken an. „I-Ich, äh… I-Ich muss…“, stammelte er und rannte am Zaun entlang davon. Prince neben mir wieherte so laut, dass ich zusammenzuckte, und galoppierte hinter meinen Freund her, gefolgt von den übrigen Pferden.

Einen weiteren Augenblick blieb ich völlig perplex an Ort und Stelle, doch dann fasste ich mich und sprintete in dieselbe Richtung. Leider lag ich ziemlich weit zurück, deshalb erreichte ich das Ende der Koppel erst, als Adam und die Pferde schon an der Ecke waren. Adam stand dort und fuchtelte wild mit den Armen, während er sprach. Die Tiere drängten sich an den Zaun und versuchten so nah an ihn heranzukommen, wie möglich. Sie wieherten und schnaubten aufgebracht. Unerklärlicherweise stellte ich mir vor, wie das wohl wäre, wenn wir einen Elektro- und keinen Holzzaun hätten. Den könnten sie nämlich herunterreißen. Es wäre zwar wahrscheinlich etwas schmerzhaft, aber so aufgeregt hatte ich die Pferde wirklich noch nie erlebt. Es wunderte mich fast schon, dass keines über den Zaun springen wollte.

Adam schien zu ihnen zu sprechen, aber das trug nicht gerade zur Beruhigung der Pferde bei. Er war so in seine Rede vertieft, dass er nicht mitbekommen hatte, dass ich ihm gefolgt war. Neugierig trat ich näher, um zu hören, was er sagte: „… Ihr könnt nicht einfach so ein Theater veranstalten! Ihr wisst genau, dass hier Besondere unter den Menschen sind und, dass das niemand erfahren darf…. Nein! Nein! Nein! … Hört ihr mir eigentlich zu? Nur, weil ich durch meine Fähigkeit… Mädchen-meines-Herzens? Hört was…?“ Er fuhr zu mir herum, die Augen vor Schreck aufgerissen. „M-Molly!“

Ich trat an ihn heran, bis ich direkt vor ihm stand: „Adam… Was zum Teufel machst du?“ Er schaute mich verzweifelt an und lachte dann trocken: „Ich rede mit den Pferden, Molly.“ Wollte er mich veralbern? Prince schnaubte leise. Adam warf ihm einen kurzen Blick zu: „Ach, echt? Jetzt hat sie es herausgefunden?“ Er rollte mit den Augen. Ich zog meine Augenbrauen hoch: „Möchtest du mir das vielleicht mal erklären?“ „Natürlich“, seufzte mein Freund, nahm meine Hand und zog mich zum Zaun, auf dem wir uns niederließen.

Die Pferde stupsten Adam an oder wollten ihre Köpfe an ihm reiben. „Oh, Mann“, murmelte er, dann hob er die Stimme, während er mit der rechten Hand schnipste, „Jetzt kuscht euch! Eure täglichen zehn Minuten mit dem sprechenden Jungen sind abgelaufen!“ Die Pferde verkrümelten sich mit hängenden Köpfen. Es wirkte echt so, als würden sie Adam verstehen. Seine hellbraunen Augen bohrten sich in meine: „Weißt du, Molly, das klingt vielleicht verrückt, aber es gibt Menschen, die … spezielle Fähigkeiten haben…“ Er sah so ernst aus, wie nie zuvor. „Magische Fähigkeiten?“, flüsterte ich aufgeregt. Er nickte. „Wirklich?“, rief ich ungläubig, „Das kann nicht sein!“ Oder doch? Schließlich hatte ich meinen Freund gerade mit Tieren sprechen sehen. „Wir bleiben immer im Verborgenen… Deshalb darfst du das auch niemandem erzählen!“, verkündete er. „Könnt ihr alle mit Tieren sprechen?“, erkundigte ich mich interessiert. Adam lachte: „Ich wusste, dass du das fragen würdest. Nein, das ist meine Gabe. Natürlich gibt es auf der Welt noch mehr Magier, die das können, aber hier an der Schule im Moment nicht.“ Ich antwortete nichts, wusste nicht, was ich noch sagen sollte, obwohl ich eine Unmenge Fragen stellen wollte. Warum war ich keine Magierin? Und warum durfte es keiner wissen? Und was für Gaben gab es noch? Wie viele Magier waren hier an der Schule? Was konnten sie? Ob ich wohl noch Magie erlernen könnte? Oder wie funktionierte Magie überhaupt?

Adam musste mir angesehen haben, dass ich ihn gleich mit einer Flut von Fragen überschütten würde, denn er schmunzelte: „Ich werde alle deine Fragen beantworten, Naseweis. Denn ich vertraue dir. Voll und ganz. Aber jetzt wirst du erstmal den Spaziergang mit deinem ZAUBERHAFTEN Freund beenden, bevor du ihn durchlöcherst.“ Damit gab er mir einen Kuss auf die Nasenspitze, sprang auf den Boden und hob mich herunter. „Aber…“, wollte ich einwerfen, da legte er mir seinen Zeigefinger an die Lippen: „Shhht! Die Fragen kommen später habe ich gesagt!“ Ich musste mich geschlagen geben und ließ mich von ihm zurück auf den Weg ziehen. Die Fragen aber habe ich mir alle ganz genau gemerkt. Wenn Adam glaubt, er kann sich davor drücken, dann hat er sich geschnitten!

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