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Liam

Für mich ist es ganz normal, dass ich jeden Tag mindestens drei Visionen habe. Aber die sind nur klein und kurz und enthalten meist auch nicht besonders viel Wichtiges. Trotzdem sind sie ganz nützlich, da ich fast immer Personen sehe, die ich kenne. Dann weiß ich, wen ich wo treffe und was passieren wird. Zum Beispiel kann ich Summer auffangen, wenn sie mit ihren Reitstiefeln die Treppe herunterfällt oder habe oft Ahnung davon, wann es regnen wird. Es mag vielleicht eine komische Vorstellung sein, dass man einfach so ohne Vorwarnung Bilder im Kopf sieht, aber ich habe mich daran gewöhnt. Das ist halt einfach meine Gabe. Ich bin ein Zukunftsseher – Nathalie verwendet Hellseher, Seher oder Orakel immer so negativ, daher musste ich mir eine alternative Bezeichnung einfallen lassen – und kann damit leben. Schließlich muss ich nicht die ganze Zeit tragische Schicksale abwenden, da ich sowas echt nicht oft vorhersehe.

Aber es gibt auch Ausnahmen. Vor einem Jahr habe ich mal verhindert, dass unser Nachbar seine kleine Tochter beim Rückwärtsausparken überfuhr. Das hatte ich am Tag vorher in einer Vision gesehen und konnte Emma rechtzeitig zur Seite ziehen.

Meine bisher schicksalhafteste Vision hatte ich in der letzten Woche der diesjährigen Sommerferien. Ich wachte morgens auf und noch im Halbschlaf überfiel mich schon die Zukunft. Das Besondere war aber, dass ich mich ausnahmsweise selbst sah. Das war mir sonst noch nie passiert und ist auch nicht wieder vorgekommen. Da das so unerwartet war, glaubte ich zuerst, dass ich noch träumte. Dass es nicht so war, merkte ich dann, als ich den wohlbekannten Druck an meinen Schläfen wahrnahm. Von da an prägte ich mir alles, was ich sah ganz genau ein.

Auch wenn es dunkel war, erkannte ich sofort, dass wir draußen an der Reithalle der Midnight Academy waren. Eine große Menge Schüler strömte zum Eingang und ich folgte ihnen – und mir selbst – hinein. Drinnen sah es anders aus als normalerweise und nachdem die Direktorin ihre Ansprache gehalten hatte, bestätigte sich meine Vermutung, dass es sich hier um den Herbstball handelte. Weil ich so mit dem Betrachten der Umgebung beschäftigt war, verlor ich mich leider aus den Augen. Also schwebte ich ein wenig umher, um mich wiederzufinden. Das hört sich vielleicht egoistisch an, aber ich dachte damals, dass ich, da ich mich einzigartiger Weise sah, die Person sei, um die es hier hauptsächlich ging.

Während ich so geistermäßig zwischen den Schülern herumwaberte, konnte ich viele interessante Paare sehen, die zusammen auf den Ball gingen. Josh und Deborah Prier – wie hatte er es nur geschafft, dass sie Ja sagte? Schade, dass ich ihm das nicht erzählen konnte, er wäre so froh, wenn er vorher gewusst hätte, dass seine Angebetete ihn erhören würde.

Es interessierte mich auch brennend, mit wem ich an diesem Abend zusammen war, weshalb ich mich auch dafür verfluchte, unauffindbar zu sein. Zukunfts-Liam fand ich auf der anderen Seite der Tanzfläche. Er hatte mir den Rücken zugewandt, weshalb er seine oder besser gesagt meine Tanzpartnerin genau verdeckte. So schnell es mir möglich war, schwebte ich in einem Bogen um mich herum. Ich platzte beinahe vor Neugierde, wer war es? Irgendwie hoffte ich, dass es nicht Valerie sein würde. Das fände ich nämlich seltsam, fast so als würde ich mit Nathalie tanzen gehen. Aber wenn sie mich fragen würde, bezweifelte ich, dass ich ablehnen könnte. Valerie wirkte immer so zerbrechlich – auch wenn sie das nicht war -, weshalb ich ihr niemals wehtun könnte.

Das Mädchen, mit dem ich tanzte, war nicht Valerie. Ich hatte sie noch nie gesehen, daher vermutete ich, dass sie im untersten Jahrgang war. Ihr blondes Haar war hochgesteckt und sie hatte funkelnde, graue Augen. Eine wirklich ansehnliche, junge Dame, die eine sehr entzückende Cinderella abgab. Jetzt sagte sie etwas und lächelte, aber aufgrund der Musik konnte ich sie nicht verstehen. Anscheinend erwiderte Zukunfts-Liam etwas, denn sie lachte auf. Und dabei sah sie sehr natürlich und ausgelassen aus, das gefiel mir.

Das Lied verklang und die Band begann ein neues, langsameres zu spielen. Was ja bedeutete – oder zumindest lernte man das so in den romantischen Teenagerfilmen, die ich manchmal gezwungenermaßen mit Nathalie schauen musste –, dass enges Tanzen angesagt war. Meine Cinderella – ich wollte unbedingt erfahren, wie sie hieß – zögerte ein wenig, so als ob sie sich unsicher wäre. Glücklicherweise war ich in der Zukunft immer noch genauso genial, wie heute, denn ich zog sie einfach zu mir heran. Mit leicht geröteten Wangen legte sie die Arme um den Hals meines Zukunftsichs. Das fand ich irgendwie süß, aber das würde sie bestimmt nicht hören wollen.

Ich schätzte, dass die Vision bald vorüber sein würde, weshalb ich meinen Bogen um die beiden fortsetzte. Eine Sache wollte ich nämlich noch sehen. Als ich mein Ziel erreicht hatte, stand ich hinter dem Mädchen und konnte mich von vorne sehen. Ich trug einen Prinzenanzug, der schick und elegant war. Und Epauletten hatte! Nicht schlecht, nicht schlecht. Vielleicht war es ein Vorteil, dass ich auf ein Internat ging, sonst hätte Mom mir wieder vorher stundenlang erzählt, wie toll ich aussah, so wie bei der Silberhochzeit meiner Großeltern.

Was aber viel auffälliger war, als mein Outfit, war ich selbst. Normalerweise finde ich es schwierig, die Gefühle von anderen zu lesen (außer ich habe bereits in einer Vision gesehen, wie sie reagieren werden), aber mich selbst kenne ich ziemlich gut. Ok, wer kennt sich selbst nicht? Als ich mich so beobachtete, wie ich langsam – und eng! – mit einem Mädchen tanzte, das ich noch nicht kannte, bemerkte ich, dass ich eine große Zufriedenheit ausstrahlte und selig lächelte. Ja, wie so ein verliebter Trottel. Ohne Scherz, ich hatte mich selbst noch nie zuvor so glücklich gesehen. Meine Oma hatte mir mal gesagt, als ich vier Jahre alt war: „Wenn du jemanden findest, der dich glücklich macht, dann sorge dafür, dass diese Person in deinem Leben bleibt.“ Damals hatte ich noch gar nicht richtig verstanden, was sie meinte, weshalb es auch etwas seltsam war, dass sie es ihrem kleinen Enkel erzählt hatte, aber das kam mir jetzt wieder in den Sinn. Und so fasste ich den Entschluss, dass ich dieses Mädchen, das mich so blöd schauen lassen konnte, unbedingt und so schnell wie möglich kennenlernen und für immer bei mir behalten musste, denn mit keiner anderen war es mir jemals so ergangen.

So hatte ich meine erste Begegnung mit Summer. Es war unglaublich und die beste Vision, die ich jemals hatte. Und etwas, das ich schon ganz früh begriffen habe, ist, das man Visionen niemals zufällig erhält. Sie erfüllen immer irgendeinen Zweck. Deshalb bin ich auch der Meinung, dass das Universum wollte, dass ich das sehe. Das ist auch der Grund, warum ich es überhaupt nicht schlimm finde, dass Summer und ich uns so schnell gefunden haben. Das Schicksal wollte es so.

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