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Lynn

Es war Montagnachmittag in den Sommerferien, Mom war Einkaufen und Hank, mein Stiefvater, war noch auf der Arbeit. Ich war zwölf, mein Bruder Gabriel 15 und unsere kleine Halbschwester Misty acht.  An diesem Tag war es gerade mal eine halbe Woche her, dass ich entdeckte hatte, dass meine Gabe Aerokinese war. Ich übte die ganze Zeit, auch wenn Mom das nicht so toll fand, da ziemlich viel zu Bruch ging. Gabe wollte mich dazu bringen, ihn in einer Windhose zu fangen, aber ich tat es nicht, da ich erstens nicht genau wusste, ob ich so etwas schaffen konnte, und zweitens war mir klar, dass er sich sowieso wegteleportieren würde. Er liebte es mit seiner Fähigkeit anzugeben und Misty himmelte ihn rund um die Uhr an.

Ich ließ gerade in meinem Zimmer einen Papierflieger herumfliegen, da riss mein Bruder die Tür auf, Misty stand hinter ihm und lugte an ihm vorbei ins Zimmer. „Mom ist weggefahren. Wir haben das Haus für uns!“ „Ich weiß“, antwortete ich abwesend, mehr auf den Flieger konzentriert. „Wir können zaubern üben!“, wollte er mich motivieren. „Au, ja!“, jubelte Misty, die noch zu jung war, um ihre Fähigkeit zu besitzen, falls sie überhaupt jemals eine haben würde; Hank war nämlich normal. Mom hatte aber gesagt, dass sich magische Kräfte eigentlich immer durchsetzen, deshalb standen ihre Chancen gut. Jedenfalls liebte die Kleine es, uns beim Üben unserer Kräfte zuzusehen.

„Komm schon, Lynnie! Dir macht es doch auch immer Spaß!“, argumentierte Gabe weiter, aber ich wollte heute lieber allein sein. „Hast du keine Freunde?“, grummelte ich. Im Augenwinkel sah ich, dass er mit den Augen rollte, und musste schmunzeln. Leider vergaß ich den Flieger und er segelte zu Boden. „Ah, ich weiß, etwas!“, rief Gabriel nun und sauste davon. Misty sah mich ernst an und sagte: „Natürlich hat Gab Freunde.“ Dann schnellte sie vor, schnappte sich das gefaltete Papier und hüpfte unserem Bruder nach.

Seufzend schloss ich erst meine Tür und holte mir ein neues Blatt für einen neuen Flieger. Nachdem ich ihn fertiggestellt hatte, ließ ich ihn von einem Luftstrom tragen, legte ich mich aufs Bett und sah zu, wie er Kreise über meinem Kopf zog. Ohne zu wackeln flog er seine Bahnen, als könnte nichts ihn aufhalten oder erschüttern. Erhaben über allem, wie ein Adler. Es musste schön sein, keine Sorgen oder Probleme zu haben oder nervige Menschen um sich. Frei, ohne Verantwortung, unabhängig. Das wollte ich sein. Oder vielleicht nicht ganz. Man sollte immer Freunde um sich haben.

Gabriel unterbrach meine Gedanken, indem er schon wieder herein platzte. Genervt setzte ich mich auf und der Flieger raste im Sturzflug auf sein Gesicht zu. Im letzten Moment konnte ich ihn noch stoppen, das hatte ich gar nicht gewollt. Aber Gabe war aus Reflex zwei Meter zurückteleportiert. „Pass auf, Schwesterchen!“, lachte er. Auch wenn ich ihn gerade nervtötend fand, wurde mir warm ums Herz. Misty gab er nie blöde Kosenamen.

Der unabsichtliche Anschlag konnte ihn auch nicht abhalten. Er marschierte zu meinem Bett und präsentierte, was er in der Hand hielt. „Tadaaa! Da finden wir bestimmt etwas Interessantes!“ Er hatte das alte, wertvolle und vor allem für uns strengverbotene Buch aus dem Geheimfach im Elternschlafzimmer entnommen. Das hatte Mom von ihrem Vater bekommen und der wiederum von seinem und der wiederum und so weiter. Darin waren neben der Chronik unserer Familie Informationen über fast alle Gaben, die es je gegeben hatte, enthalten. Wir durften es eigentlich nicht anfassen,  genauer gesagt, sollten wir noch nicht mal wissen, dass es existierte, aber vor uns konnte nichts geheim bleiben!

Leider waren wir beim ersten – und letzten – Mal, dass wir es genommen hatten, erwischt worden und hatten Riesenärger bekommen. Seitdem hatten wir nicht mehr gewagt es anzurühren. Gabriel knallte es auf meinen Schreibtisch und schlug es auf. „Aha, mhm, Stammbäume, Stammbäume, langweilig“, kommentierte er beim Durchblättern, „Irgendein berühmter Vorfahre, ach so, aha, noch mehr öde Stammbäume. Ah, das Verzeichnis!“ Geschockt saß ich da, er konnte doch nicht einfach das Buch nehmen! Er hatte anscheinend kein Problem damit. „Das Element Luft oder auch Aerokinese, da haben wir's ja!“, triumphierte er und begann zu lesen. „Lass mich auch mal sehen!“, verlangte Misty und hüpfte hinter ihm herum. Ich war wider meines Willens neugierig. Was stand da wohl?

Leise schlich ich mich zu den beiden und spähte über Gabes Schulter. „Ich wusste, dass du nicht widerstehen kannst!“, lachte er vergnügt und zeigte auf eine Textstelle: „Hier steht, dass du fliegen kannst!“ „Da steht, dass fast alle Aerokinesen das können, das heißt nicht, dass…“ „Du kannst fliegen?“, fragte Misty in dem bewundernden Ton, der sonst nur Gabriel vorbehalten war. „Ja, kann sie“, grinste Gabriel, „Sie muss es nur noch ausprobieren.“ Und damit zog er mich zum Fenster und öffnete es. „Bist du verrückt? Ich springe doch nicht aus dem Fenster!“, rief ich aber mein Bruder lachte nur.

„Zeigst du mir, wie du fliegst?“, quengelte meine Schwester auf und ab hüpfend, ihre braunen Locken tanzten um ihr Gesicht und ihre schokoladenbraunen Augen waren weit aufgerissen. „Genau, Lynnie, zeig’s uns!“, bekräftigte Gabe. „Nein“, ich trat einen Schritt zurück. „Feigling! Du wirst nie erfahren, ob du es kannst“, meinte er schulterzuckend. Ich musterte das Fenster stumm. Konnte ich denn fliegen? Es würde mir sehr gefallen, aber sollte ich das riskieren? Ich malte mir aus, wie es wäre frei zu fliegen.   

Für einen kurzen Moment war mein Kopf völlig leer, als ich das nächste Mal eine Umgebung wieder bewusst wahrnahm, hockte ich auf dem Fensterbrett. Es war ganz schön weit bis nach unten, das würde wehtun. „Flieg, Lynn, flieg!“, jauchzte Misty hinter mir. Ich schluckte und schloss die Augen. „Mach es nicht“, hörte ich Gabriel noch, doch da hatte ich mich schon abgedrückt. Luft rauschte in meinen Ohren und ich schrie. Dann stoppte mein Fall so plötzlich, dass ich dachte, ich wäre am Boden angekommen. Aber ich spürte nichts. „Du kannst es ja doch“, lachte Gabe und seine Stimme schien, von unten zu kommen. Ich öffnete die Augen.

Ich schwebte ungefähr eineinhalb Meter über dem Hof. Mein Bruder schaute zu mir hoch, anscheinend hatte er sich teleportiert, um mich aufzufangen, als es so aussah, als ob ich einen Aufprall nicht verhindern könnte. Das fand ich unglaublich von ihm, mit so viel Schwung, wie ich durch den meterhohen Sturz gehabt hätte, hätte ich ihn glatt erschlagen. „Du hättest mich gerettet“, flüsterte ich gerührt, aber so leise, dass er es nicht hörte. Da ertönte von der Straße her ein Auto. „Oh Gott, Mom kommt! Rückzug, Vogelmädchen!“, rief er und war verschwunden.

Panisch versuchte ich irgendetwas zu machen, da fuhr Mom auch schon in die Einfahrt. Ich sah ihre vor Schreck aufgerissenen Augen, als sie mich bemerkte und plötzlich hielt mich nichts mehr. Kreischend krachte ich auf die Pflastersteine. Ein brennender Schmerz fuhr in mein rechtes Bein. Wimmernd rollte ich mich zusammen, während Mom aus dem Auto sprang und zu mir rannte. Wir fuhren ins Krankenhaus, wo ich geröntgt wurde. Und so kam es, dass ich den Rest der Ferien mit einem fetten Gips in meinem Bett sitzen musste, aber wenigstens wusste ich, dass ich fliegen konnte.

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