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Cloud

Es war Sonntagnachmittag und keiner meiner Freunde hatte heute Zeit. Mom hatte mir alle elektronischen Geräte abgenommen und so saß ich in meinem Zimmer und quälte mich mit der Frage, ob ich tatsächlich so verzweifelt war, dass ich es schon in Betracht zog ein Buch zu lesen. Ich hasste lesen! Es gab ja wohl nichts Langweiligeres als Bücher! In meinem Kopf begann der Monolog, den Summer mal gehalten hatte, um ihre geliebten Wälzer zu verteidigen und mich vom Lesen zu überzeugen. Damals wie heute motivierte er kein bisschen.

Meine Zimmertür öffnete sich ein Stück und Freddie schob sich herein. „Komm her, mein Freund!“, forderte ich ihn auf und wartete darauf, dass er zu mir aufs Bett sprang. Aber der Kater blieb davor stehen und blickte mich unverwandt an. „Komm hoch! Mom wird es nicht erfahren!“, versuchte ich ihn zu locken. Unsere Mutter fand es nämlich nicht so toll, wenn Freddie mit in den Betten schlief, aber nachts konnte man das sowieso nicht verhindern.

Der Kater hatte dazu keine Lust. Er fing an, vor dem Bett auf und ab zu marschieren, immer wieder an mir vorbei. Interessiert beobachtete ich ihn dabei. Es kam mir so vor, als wolle er mir etwas vorführen. Er rannte, schlich und streckte sich. Man konnte die Muskeln unter seinem weißen Pelz spielen sehen. Mir war vorher nie aufgefallen, wie elegant er sein konnte.

Jetzt duckte er sich zum Sprung und flog im nächsten Moment auf mich zu. Ganz kurz wurde mein Blickfeld verschwommen und ein seltsames Kribbeln breitete sich in meinem Körper aus. Dann war es auch schon wieder vorbei. Freddie hockte neben mir. Irgendwie wirkte er größer als sonst. „Ich wusste du kannst es, wenn ich es dir ein bisschen vorführe!“, schnurrte er zufrieden. Erschrocken sprang ich zurück. Mein Hauskater hatte soeben mit mir gesprochen! Leider war das keine gute Idee, denn ich hatte meinen Körper nicht ganz unter Kontrolle. Ich trat mir auf die eigenen Füße… mit meinen Armen?! Was war da los?

Ich blickte an mir herab. Und sah Katzenbeine. Mit richtigen Pfoten! „Wie ein kleines Kätzchen“, sagte Freddie amüsiert und sprang dann vom Bett, „Folge mir und benimm dich ja so, wie es in deiner Gestalt angemessen ist!“ Er verließ das Zimmer und tappte in Richtung Treppe. Meine Ohren zuckten. Mit denen konnte man echt gut hören. Vorsichtig sprang ich auch auf den Boden und landete zum Glück weich und gekonnt. Freddie wartete am Treppenansatz. Aber ich rannte erstmal ins Bad, wo ich vor den großen Spiegel trat.

Ehrlich gesagt, sah ich ziemlich gut aus. Braungetigertes Fell, gelbe Augen und weiße Pfoten. Ich betrachtete mich eingehend und überlegte, ob ich auch ein anderes Aussehen haben könnte. Und schwupps, mein Pelz wurde schwarz. Was übrigens auch sehr cool wirkte. „Hör auf dich selbstverliebt anzustarren und beweg dich endlich!“, forderte Freddie, „Ich will dir die Kätzinnen in der Nachbarschaft vorstellen. Oh, das wird so toll!“ Weil ich ihm nicht die Freude verderben wollte, gab ich nach und hüpfte – zugegebenermaßen etwas unbeholfen, mit vier Beinen ist das nicht so leicht – die Stufen herunter. Freddie steuerte die Haustür mit der Katzenklappe an und verschwand nach draußen. Ich wollte hinterher, doch eine riesenhafte Gestalt trat mir in den Weg.

Reflexartig trat ich einen Schritt zurück und prüfte die Luft. Es war nur Mom! Ich übernahm wieder die Kontrolle über die Katzeninstinkte und näherte mich ihr. „Mom, ich…“, setzte ich an, erschrak aber fürchterlich als ihre Hände mich plötzlich von oben packten und in die Höhe hoben. Sie sah verärgert aus. „Cloud! Hast du etwa die Katzenklappe nicht zugemacht? Hier ist eine fremde Katze!“, rief sie nach oben. „Schrei doch nicht so laut!“, wimmerte ich, meine Ohren waren echt empfindlich. Aber meine Mutter schien mich nicht zu verstehen: „Cloud!“ „Ich bin hier! Ich hab mich verwandelt!“, sagte ich klar und deutlich, doch ich befürchtete so langsam, dass sich meine Worte für Menschen wie Miauen anhörten. Als sie keine Antwort erhielt – das würde nachher Ärger geben! –, seufzte sie, trug mich zur Tür, öffnete diese und setzte mich etwas unsanft ab. Unwillkürlich sträubte sich kurz mein Pelz, was ein komisches Gefühl war. Doch Mom schenkte mir keine weitere Beachtung und knallte die Tür zu.

„Woher wusstest du eigentlich, dass ich mich verwandeln kann?“, fragte ich Freddie neugierig, während ich neben ihm her lief. „Das hatte ich einfach so im Gefühl“, antwortete er, wenn er ein Mensch gewesen wäre, hätte er bestimmt mit den Schultern gezuckt. „Wenn du dich so gut auskennst“, hakte ich weiter nach, „Dann kannst du mir doch bestimmt auch sagen, wie ich mich wieder zurück verwandle, oder?“ Er warf mir einen kurzen Seitenblick zu: „Warum bleibst du nicht einfach für immer so?“ Mein Nackenfell stellte sich auf: „Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ „Ist es denn so toll ein Zweibeiner zu sein?“, konterte Freddie. „Nein, es ist nur so, dass ich mich mit der Vorstellung, Katzenfutter zu essen, nicht anfreunden kann, weißt du?“, antwortete ich sarkastisch. 

Einen Moment lang schwiegen wir beide und ich fragte mich, ob Freddie mich verstanden hatte. Da sagte er: „Stimmt, Frischbeute ist viel besser. Hast du schon mal eine Maus gefangen?“ Hätte ich es gekonnt, hätte ich mit den Augen gerollt. Dass Katzen so etwas nicht verstanden, hätte ich mir eigentlich denken können. Gerade als ich etwas erwidern wollte, duckte Freddie sich plötzlich und zischte: „Hier musst du schleichen, sonst hört sie uns!“ „Wer?“, fragte ich verwirrt und versuchte leise aufzutreten. „Hinter diesem Zaun wohnt…“ „Freddie?“, erklang da eine helle Stimme, eindeutig eine Kätzin. Ein schmales Gesicht erschien an der Zaunkante und schließlich auch der Körper, bevor sie zu uns hinab auf den Bürgersteig sprang.

Es war eine zierliche Siamkatze, die vor Freddie herumtänzelte. „Wie schön, dass du vorbeikommst…“, ihr Blick fiel auch mich, „Oh, wen hast du da mitgebracht?“ Erfreut kam sie auf mich zu, schnupperte an mir und strich um mich herum. Ein Teil von mir fand das wirklich anziehend, was mir irgendwie Sorgen breitete. „Ein süßes Katerchen“, schnurrte sie offensichtlich zufrieden, „und beim Abschneider war er auch noch nicht!“  „Hey!“, protestierte ich, aber sie strich mit ihrem Schwanz an meinem Kinn entlang, was mich zum Schweigen brachte. „Lass ja die Pfoten von ihm!“, drohte Freddie, „Wir gehen jetzt!“ Damit packte er mein Ohr unsanft mit den Zähnen und zog mich fort. „Ich wollte doch nur mit ihm … spielen“, meinte die Kätzin enttäuscht und sah uns nach, bis wir um die nächste Ecke verschwunden waren.

„Au, au, au, du kannst mich jetzt loslassen!“, jammerte ich und Freddie gab mein Ohr frei. „Dafür wirst du mir noch danken“, prophezeite er und marschierte in Richtung Zuhause. Ich folgte ihm, ein bisschen eingeschnappt, aber das schien ihn nicht zu interessieren. Was mich aber immer mehr beschäftigte war, wie ich in meine Gestalt wechseln konnte. Würde ich nackt sein oder wo war meine Kleidung, die ich vorhin getragen hatte, hin? Eins stand fest: Ich konnte – und wollte – nicht für immer ein Kater bleiben. Was würden Mom und Dad denn denken, wenn ihr Sohn urplötzlich verschwand und nie wiederkam? Außerdem hatte ich definitiv die Schnauze voll davon, eine Katze zu sein.

An der Haustür drehte sich Freddie zu mir um. Seine Augen wurden groß vor Überraschung. Dann begann er zu ersticken. Oder zumindest hörte es sich so an, aber da er nicht panisch wurde oder so, vermutete ich, dass er lachte. Ein Katzenlachen ist etwas Komisches. „Was ist?“, fragte ich mürrisch. „Du siehst bescheuert aus“, prustete er und bekam sich überhaupt nicht mehr ein. „Danke“, fauchte ich und schlüpfte nach drinnen. Weil es mich aber doch interessierte, was für eine Gestalt bei einer Katze für einen Lachanfall sorgte, eilte ich so leise wie möglich nach oben, um mich abermals im Spiegel zu betrachten. Glücklicherweise hörte Mom mich nicht.

Zögerlich trat ich ins Bad, nahm allen Mut zusammen und trat vor den Spiegel. Ich sah direkt in das Gesicht von ‚Grumpy Cat‘. „Was zum Teufel?“, entfuhr es mir und ich musste unwillkürlich lachen. So sehr, dass ich eine Weile unkontrolliert japsend auf dem Boden lag. Nachdem ich aufgehört hatte, musste ich feststellen, dass ich wieder Hände statt Pfoten hatte. Ich war wieder ich! Und auf magische Weise war meine Kleidung an Ort und Stelle. Was bedeutete, dass es nicht peinlich wäre, sich in der Öffentlichkeit zurück zu verwandeln. Meine Gabe ist großartig! Ich wollte alle Tiere ausprobieren. Befreit rannte ich nach unten. „Ich gehe nach draußen, Mom!“, rief ich ausgelassen und stürmte in den Garten, wo ich hoffentlich einen Vogel finden würde, in den ich mich verwandeln konnte.

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