Kapitel 6

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Mondjunges zitterte fürchterlich. Um die Kälte und Schmerzen auszuhalten, biss sie in den Stock den sie seither noch nicht weggegeben hatte. Ihre Pfoten taten vom langen Weg weh, sie fror und sie spürte blaue Flecken auf ihrem gesamten Körper. Von überall piekten sie Äste und Dornen, sie zerrten an ihrem Fell. Langsam öffnete sie die Augen und sah Dunkelheit. Aber diese war anders. Sie erkannte absolut gar nichts. Und langsam sollte Sonnenaufgang kommen und dann müsste alles grau sein. Aber das war nur Schwärze. Sie konnte sich aber nicht weiter drauf vertiefen, denn sie hörte Stimmen ihren Namen rufen. „MONDJUNGES! WO BIST DU?!“ „PAPA!“ Sie hatte die Stimme ihres Vaters sofort erkannt und hoffte, dass er sie gehört hatte. „MONDJUNGES?“ Die Patrouille kam näher und das Junge roch neben Vipernschweif noch Fleckenkralle, Schlangenbiss und deren Schüler. „Ich bin hier!“, rief sie kraftlos. „Ich sehe sie!“ Neben den Stimmen vernahm sie nun auch Pfoten, die über den harten, zugefrorenen Boden trommelten. Ich nicht! Ich sehe euch nicht! Ich kann euch nicht sehen! Schluchzend und zitternd versuchte sie vorzurobben, aber sie schaffte es nicht, sie war zu schwach und das verflochtene Gebüsch ließ ihren widerstandslosen Körper nicht durch. „Mondjunges, wir sind gleich da!“ Dann hörte sie Schangenbiss sagen: „Regenpfote, Amselpfote, ihr seid kleiner, versucht sie da rauszuholen!“ Da die beiden nicht antworteten, nahm das Junge an, sie nickten. Ein Rascheln ertönte, begleitet von Flüchen, als die Schüler einzelne ihrer Fellbüschel an den Dornen und Zweigen der Büsche hängen ließen. Von Amselpfote kamen sanfte Anweisungen. „Kriech auf mich zu“, trug sie Mondjunges auf. „Ich sehe dich nicht! Ich kann keinen von euch sehen! PAPA!“ „Shh“, versuchte Regenpfote sie zu beruhigen, doch sie ignorierte ihn. Langsam war das Junge aufgelöster als der Schnee in der Blattgrüne. Wieso sehe ich nur Schwarz? Ich will etwas sehen! Mama, bitte! Hilf mir! Ich möchte nicht nichts sehen! Etwas packte sie an der Schulter und zerrte an ihr. Mondjunges versuchte es abzuschütteln, hatte dabei den Ast fest im Maul. „Ruhig, ich bin's nur“, erklärte Amselpfote. Die dunkelbraune Kätzin und Regenpfote hievten sie aus dem Gestrüpp. Die ganze Zeit klammerte sie sich an den Ast. Sie durfte ihn nicht verlieren. Endlich spürte sie nichts als Luft um sie herum. Sofort kam ihr Vater zu ihr und begann sie zu beschnüffeln. „Mondjunges, meine Kleine, geht es dir gut?“, schluchzte Vipernschweif. „Ich sehe dich nicht!“, heulte das weiße Kätzchen und schmiegte sich an den dunklen Kater. „Oh, Süße, es tut mir so Leid“, beteuerte der zweite Anführer und leckte seiner Tochter beruhigend über den Kopf. „Ich hab Angst, Papa“, flüsterte das Junge und vergrub ihre Schnauze in dem weichen Fell ihres Vaters. „Das ist alles meine Schuld.. Ich hätte aufpassen müssen...“, murmelte Vipernschweif in sich hinein. „Ist die Sonne schon aufgegangen?“, fragte die Kleine hoffnungsvoll. Ihr Vater verfiel in Schweigen. Von der Seite hörte sie Fleckenkralles klare Stimme. „Es ist sogar fast Sonnenhoch.“ Mondjunges legte sich mit leerem Kopf auf den feuchten, kalten Schnee, der den Abhang bedeckte, kaute auf ihrem Stock und schloss langsam die Augen, als ihre Erkenntnis kam. Nüchtern platzierte sie den Kopf auf den Pfoten, ignorierte das Zittern, das durch ihren Körper lief, verdrängte sämtliche Schmerzen, verbannte die Wut. In ihr war nichts, es breitete sich eine Leere aus, die nicht schlimmer sein konnte. Und schwach wie sie so da lag, halb erfroren, voller Schmerz und Kummer übermannte sie Traurigkeit und Erschöpfung. Und bevor sie endlich einschlief schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf, der sich für ewig in ihr Hirn einbrennen sollte.
Ich bin blind.  

Crescent MoonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt