"Guten Abend. Sie sprechen mit dem Heimwegtelefon. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?"
"Solange du mich nicht siezt, ja."
"Oh, entschuldigen Sie- äh... entschuldige."
"Alles gut."
"Möchten Sie mir Ihren Standort mitteilen? Falls etwas passieren sollte, könn-"
"Spreche ich da eigentlich mit einer automatischen Ansage oder mit einem Menschen?"
"Na mit einem Menschen natürlich."
"Hört sich nicht so an. Außerdem hast du mich gerade schon wieder gesiezt."
"Tut mir leid, das ist die Gewohnheit."
"Lass mich raten, Gewohnheit ist es auch, auswendig gelernte Sätze hintereinander aufzusagen?"
"Ähm, also... das ist mein drittes Gespräch, um ehrlich zu sein. Ich lese einfach nur die Sätze ab, die man bei diesen Telefonaten sagen sollte."
"Und welcher Satz steht als nächstes drauf?"
"Möchten Sie mir nun Ihr Aussehen grob beschreiben? Falls etwas passieren sollte, können Sie leichter gefunden werden."
"Ich bin circa eins siebzig groß, schlank und habe blonde Haare. Wow. Diese Beschreibung trifft auf die Hälfte aller Frauen zu."
"Trotzdem hilft sie. Eine grobe Angabe ist besser als keine. Außerdem tritt in den seltensten Fällen der Fall ein, dass die 110 gewählt werden muss."
"Und was ist, wenn dir etwas passiert? Wenn jemand bei dir einbricht, ich es mitbekomme, aber nicht weiß, wo du bist?"
"Das ist unwahrscheinlich. Statistisch gesehen geschehen 85% der Einbrüche tagsüber."
"Aber 85 ist nicht gleich 100. Hier in der Nachbarschaft wurde letztens eingebrochen. Der Frau wurde nachts die Kehle durchgeschnitten. Mehrere Wochen hat der Einbrecher in ihrem Haus gewohnt, ohne dass es jemand mitbekommen hat. Aber solange es nur 15% sind..."
"Du meine Güte, wirklich? Ich muss kurz schauen, ob ich die Wohnungstür abgeschlossen habe."
"Echt? Das glaubst du? Und mein Bruder sagt ich sei schlecht im Geschichtenausdenken. Pff."
"Warte- was? Du hast mir solche Angst gemacht!"
"Also, sagst du mir lieber, wo du wohnst?"
"Sicher ist sicher. Das ist die-"
"Oh Gott, bist du leichtgläubig! Was, wenn ich in Wahrheit der Mörder der alten Frau bin und du mein nächstes Opfer bist?"
"Du bist krank. Und komisch."
"Und du gleich tot."
"War das gerade ein Klopfen? Klopft da jemand an meine Wohnungstür?"
"Oh Mann, du bist echt lustig."
"Lachst du mich gerade aus?"
"Ich war diejenige, die geklopft hat. Also nicht an deine Tür, sondern auf meinen Tisch, um dich auf den Arm zu nehmen."
"Das ist nicht lustig!"
"Für mich schon."
"Wie soll ich jetzt noch in Ruhe einschlafen? Warte- ist das Musik bei dir im Hintergrund? Bist du zu Hause?"
"Ja, seit ein paar Minuten."
"Warum sagst du das denn nicht?"
"Ich hätte die Unterhaltung an ihrem Höhepunkt doch nicht einfach so unterbrechen können!"
"Ich weiß, du kannst es nicht sehen, aber ich schüttle gerade den Kopf. Du bist wirklich unmöglich."
"Aber von den drei Telefonaten, die du bisher hattest, war meines das unterhaltsamste, oder?"
"Dazu sage ich jetzt nichts. Wegen dir hatte ich Todesangst!"
"Wegen mir hast du deine langweiligen vorgedruckten Sätze überdacht, oder tust das noch in Zukunft, und dir ist bewusst geworden, dass man sich nicht auf irgendwelche Statistiken verlassen sollte."
"Ja, schon."
"Also. Na dann, gute Nacht. Danke für das Gespräch."
"Vielen Dank, dass Sie unsere Nummer gewählt haben! Bis zum nächsten Mal!"
"Schon wieder."
"Oh Mann, daran muss ich echt noch arbeiten."
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Heimwegtelefon
Short Story"Guten Abend. Sie sprechen mit dem Heimwegtelefon. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?" Ein Anruf. Zwei Menschen. Unendlich viele Möglichkeiten, das Gespräch weiterzuführen. Und ehe sie es wissen, verändern sie mit jedem weiteren Wort immer mehr das Leb...