10. Anruf

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"Hi Mai! Wie war die Arbeit?"

"Ach, ganz okay. Es war echt viel los, das hätte ich gar nicht gedacht. Zum Glück wurde es später etwas ruhiger."

"Ich weiß."

"Was?"

"Ich war da."

"Du warst wo?"

"Na im Milo."

"Habe ich dich gesehen?"

"Ich habe dich auf jeden Fall gesehen."

"Das ist unfair! Warum hast du nicht hallo gesagt?"

"Weil ich nicht wollte."

"Schämst du dich für dein Aussehen?"

"Nein."

"Dann hättest du auch hallo sagen können. Also auch, wenn du dein Aussehen nicht magst."

"Ich weiß. Aber so ist es doch viel lustiger."

"Für dich vielleicht. Warst du der Junge im Rollstuhl? Ich habe mich kurz mit ihm unterhalten, er war echt nett."

"Nein."

"Der, der an der Bar saß? Er hatte schwarze, längere Haare und- ach nee, er war nur zu Besuch in der Stadt. Dann war da noch eine Gruppe Jungs, die die ganze Zeit so laut waren. Warst du einer von ihnen?"

"Du brauchst gar nicht erst zu raten. Ich sage es dir nicht."

"Du bist blöd. Hast du wenigstens deinen Vater gefragt?"

"Nein, ich habe an der Abgabe gesessen. Ich frage ihn aber morgen. Familienessen."

"Gut. Gibt es irgendeinen bestimmten Anlass für das Essen?"

"Eventuell habe ich morgen Geburtstag."

"Was heißt morgen? Wir haben vier Uhr nachts."

"Dann habe ich eventuell schon seit vier Stunden Geburtstag."

"Warum sagst du mir das nicht? Du bist so blöd, dafür gratuliere ich dir jetzt nicht."

"Ist okay."

"Du bist so komisch, ich werde aus dir wirklich nicht schlau."

"Ich aus dir auch nicht. Du unterbrichst gerne andere, bist rebellisch, weichst geschickt Fragen aus, hast keine Lust auf die typischen Dinge, gehst gerne deinen Weg. Obwohl du selbst nicht weißt, was dieser ist."

"Ich würde sagen das beschreibt mich ziemlich gut."

"Ich kann dich trotzdem schlecht einschätzen."

"Du musst mich auch nicht einschätzen können. Also ist doch alles gut."

"Naja, ich frage mich seit Tagen, was du antworten würdest, wenn ich dich fragen würde, ob du dich mit mir treffen wollen würdest."

"Viel zu viel 'würde'. Wenn du mich etwas fragen willst, frag einfach."

"Möchtest du dich womöglich mit mir treffen?"

"Ja, Milo. Ich möchte mich womöglich mit dir treffen."

"Und was heißt das jetzt?"

"Keine Ahnung. Was heißt denn deine Frage?"

"Du bist so umständlich. Willst du dich jetzt mit mir treffen oder nicht?"

"Wenn du so fragst, nö."

"Liebste Mai, möchtest du- nein, wenn du nicht willst, dann will ich auch nicht."

"Okay, dann nicht."

"Du bist wirklich die umständlichste Person, die ich kenne."

"Ich? Du kannst nicht mal eine Frage richtig formulieren."

"Du kannst nicht mal den Sinn einer vielleicht ungünstig formulierten Frage verstehen."

"Doch, kann ich. Aber wenn du etwas willst, musst du schon richtig fragen."

"Naja, ich will ja nicht mehr."

"Gut."

"Also hättest du sowieso nein gesagt?"

"Hab ich nie behauptet."

"Ich hatte Recht. Ich werde aus dir wirklich nicht schlau."

"Vielleicht solltest du mich besser kennenlernen."

"Vielleicht hat mir das jetzt auch gereicht."

"Oha!"

"Ich mache doch nur einen Scherz. Das wäre doch wirklich dumm, jetzt den Kontakt zu dir zu beenden. Schließlich muss ich dir noch all das zurückgeben, das du mir angetan hast."

"Das klingt echt hart."

"Also ich war nicht derjenige, der mich bei jedem Telefonat unterbricht und der meine Fragen absichtlich falsch versteht, um mich zu ärgern."

"Also wirklich, wer würde denn sowas machen?"

"Ich kenne da jemanden."

"Hm, bei mir klingelt da wirklich nichts."

"Dann schlaf am Besten mal eine Nacht darüber, vielleicht fällt es dir dann ein."

"Wenn du meinst. Gute Nacht."

"Schlaf gut."

"Ach, bevor ich es vergesse: Alles Gute zum Geburtstag, Blödmann."

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