15. Anruf

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"Hallo?"

"Hi."

"Wieso rufst du an?"

"Wieso nicht?"

"Weil ich immer diejenige bin, die anruft?"

"Tja, heute nicht."

"Und woran liegt das?"

"Ich weiß nicht, ich konnte nicht schlafen. Hab mal wieder zu viel nachgedacht."

"Über Quantenphysik? Das Horizontproblem? Oder dunkle Materie?"

"Woher kennst du das Horizontproblem?"

"Keine Ahnung, ich finde sowas interessant."

"Seit wann?"

"Schon immer. Aber ein Physikstudium wäre trotzdem nichts für mich."

"Du wirst von Telefonat zu Telefonat interessanter. Vielleicht kann ich deshalb nicht aufhören, an dich zu denken."

"Du meinst du konntest nicht einschlafen, weil du an mich gedacht hast?"

"Vielleicht."

"Vielleicht?"

"Vielleicht habe ich beim Abendbrot mit meiner Nachbarin ein Glas Wein zu viel getrunken und habe ein warmes Gefühl im Bauch, das sich ein bisschen wie Verliebtheit anfühlt."

"Deine Nachbarin?"

"Ja, Frau Schuck. Ich gehe manchmal mit ihrem Hund Gassi, wenn ihre Hüfte wieder so schmerzt, dass sie sich kaum bewegen kann. Sie lädt mich als Dankeschön oft zum Abendessen ein. Seit ihr Mann gestorben ist, ist sie ziemlich einsam."

"Aus irgendeinem Grund dachte ich gerade deine Nachbarin wäre eine junge, attraktive Frau."

"Hätte es dich gestört?"

"Nein, wie kommst du denn darauf?"

"Ach, nur ein Gedanke."

"Wie war dein Wochenende so?"

"Einsam."

"Meins auch."

"Echt?"

"Ja, wir haben unsere Tante besucht, die fünfzig geworden ist. Lauter Menschen in viel zu kleinen Zimmern und auf viel zu engen Sofas."

"Das klingt irgendwie gar nicht einsam."

"Nicht? Die Zwillinge werden dauernd nach ihren Wettkämpfen gefragt und in den Himmel gelobt für alles, was sie schulisch und außerschulisch erreichen. Und mir lächelt man gekünstelt zu, wenn ich erzähle, dass ich in einer Bar arbeite und nicht die geringste Idee habe, wie ich mein Leben gestaltet will."

"Das klingt nach deutlich zu oberflächlichen Gesprächen und Menschen."

"Und dann sehen sie mein Tattoo und ich kriege mit, wie sie daraufstarren, als würde ich nackt vor ihnen sitzen, aber fragen natürlich nicht nach, sondern wechseln das Thema oder stehen auf, um sich etwas zu trinken zu holen."

"Du hast ein Tattoo?"

"Eine kleine Biene unter meiner Armbeuge. Seit zwei Wochen habe ich es jetzt."

"Das ist ein süßes Motiv. Wie kann deine Familie nur so negativ darauf reagieren?"

"Ich glaube sie sind nicht damit einverstanden, dass ich meinen eigenen Weg gehe. Ich bin eben kein Elite-Student oder Doktortitelträger. Das werde ich auch nie sein."

"Ich finde dich wegen all dem, was du sagst und tust und bist so verdammt interessant und inspirierend. Diese Leute müssen blind sein, wenn sie das nicht auch erkennen."

"Du bist so lieb. Ehrlich, so etwas Liebes hat glaube ich noch keiner zu mir gesagt."

"..."

"..."

"Was bedeutet dein Tattoo?"

"Irgendwie verbinde ich es mit meiner Kindheit. Wir sind oft in den Sommerferien zu meinem Onkel gefahren. Er hat mitten im Nirgendwo gewohnt und man konnte aus den Fenstern heraus unendlich weit sehen. Er hat im Garten Bienen gehalten und nach jedem Besuch gingen wir mit einem Honigglas nach Hause. Mein Traumberuf früher war Imker, ich war sogar ein Mal zu Fasching als Imker verkleidet."

"Das ist so unglaublich süß. Aber dann muss doch wenigstens er sich über das Tattoo gefreut haben?"

"Er war nicht beim Geburtstag."

"Wieso nicht?"

"Er... er konnte nicht. Vor zwei Wochen, als ich mir das Tattoo stechen ließ, war sein erster Todestag."

"Das ist ja schreck- ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Ich wünschte er wäre noch da."

"Ich auch. Meine Eltern konnten die besten Urlaube planen, ans Mittelmeer oder nach Amerika – auf den Urlaub bei meinem Onkel habe ich mich immer am meisten gefreut."

"Er wäre stolz auf dich. Auf den Weg, den du gehst. Auf die Person, die du in diesem einen Jahr geworden bist. Auf alles, was noch kommt."

"Ich habe das Gefühl, manchmal bist du besser in Worten als ich. Dabei verbringe ich fast jeden Tag damit, Dinge zu schreiben, während du Physikdinge lernst. Ich glaube du solltest derjenige sein, der beim Poetry Slam seinen Text vorträgt."

"Bedeutet das, dass du teilnimmst?"

"Ich denke schon. Ich hatte letztens schon einen Poetry Slam geschrieben, aber nach dem Lied, das du mir vorgestern gezeigt hast, kam mir ein anderes Thema in den Sinn, das mir viel besser gefällt."

"Du weißt schon, dass morgen der letzte Tag zum Teilnehmen ist, oder?"

"Ja. Ich habe die ganze Nacht durchgeschrieben und muss heute nochmal drüberlesen."

"Glaub mir, du bist deutlich talentierter als ich darin."

"Das kannst du gar nicht wissen."

"Ist mit deiner Freundin eigentlich alles in Ordnung? Sie hatte angerufen, als ich die Leitung belegt hatte."

"Ja, sie hat mir von einem Jungen erzählt, den sie mag. Sie trifft sich nächste Woche das erste Mal mit ihm und hat vorgeschlagen, ein Doppel Date daraus zu machen. Sein Halbbruder ist nämlich auch Single und sieht ihren Erzählungen nach total gut aus."

"Oh, okay."

"Ich habe zwar nicht große Lust darauf, aber sie ist extrem schüchtern und braucht mich da. Und wer weiß, wie das Date so wird."

"Ja, viel Spaß. Wird bestimmt lustig."

"Alles okay? Du klingst irgendwie nicht so begeistert."

"Doch, klar. Ich bin nur müde. Ich sollte jetzt wirklich schlafen gehen."

"Gut, tu das. Gute Nacht!"

"Schlaf gut."

"Noch zu deiner Info: Ja, es hätte mich gestört."

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