Timidity I [Aone]

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Jetzt ist er lieb, ganz schüchtern gar; er hat etwas, was sicher vorher nicht so war.
- Belle (Die Schöne und das Biest)

***

Die Sonne schien erbarmungslos auf mich hinab und ließ mich angestrengt keuchen, als ich versuchte die vier Einkaufstüten irgendwie dieses Monster einer Straße hochzuhieven. Wer war überhaupt auf diese schwachsinnige Idee gekommen einen Hügel mit einer zehnprozentigen Steigung zu asphaltieren und das als Straße durchgehen zu lassen? Mit demjenigen würde ich gerne einmal eine ernste Unterhaltung führen und ihm ein paar Takte zu diesem Hirnriss mit auf den Weg geben. Blöderweise war diese Monsterstraße der einzige Weg für mich, um nach Hause zu kommen. Schweißgebadet gelangte ich eine Viertelstunde später auf dem höchsten Punkt an. Ich brauche ganz dringend eine Pause, dachte ich vollkommen aus der Puste und hielt auf eine Bank zu, die in der Nähe stand. Mit meiner letzten Kraft setzte ich die Tüten ab und ließ mich auf die Sitzfläche fallen. Erschöpft schloss ich die Augen und bemerkte erst, dass eine der Einkaufstüten umgefallen war, als sich drei Dosen lautstark auf und davon machten. Das metallische Klingen der Dosen ließ meinen Kopf hin die Höhe schießen und mich zunächst ziemlich dumm aus der Wäsche schauen. Als der erste Schreck überwunden war, sprang ich auf die Beine und sprintete den Ausreißern hinterher. „Nein!! Bitte nicht!!“, rief ich den Tränen nah, als ich versuchte den abtrüngigen Dosen auf der steilen Straße habhaft zu werden – „Hilfe! Nicht! Bleibt gefälligst stehen!“.

Ich war so auf die rollenden Blechdosen fixiert, dass ich nicht auf die Straße vor mir achtete. Mit meinem Fuß blieb ich an einer Erhöhung im Asphalt hängen und stolperte, wild mit den Armen rudernd, nach vorne. Geistig sah ich mich schon die Straße hinunterkullern und schloss mit meinem Leben ab. Ich kniff die Augen zusammen, gab einen erstickten Schrei von mir und wartete auf den schmerzhaften Aufprall, der… ausblieb. Ich spürte einen Arm, der sich um mich geschlungen hatten und mich an Ort und Stelle hielt. Der Duft von Zitrone und Ingwer umhüllte mich. Vorsichtig öffnete ich die Augen und erblickte einen muskulösen Arm, der in einer weißen Trainingsjacke steckte, und sich um meine Taille geschlungen hatte. Ich folgte dem Arm mit meinen Augen, musste schon fast den Kopf in den Nacken legen, und blickte schließlich in das Gesicht von… Takanobu Aone.

Mir klappte die Kinnlade herunter. Warum musste ausgerechnet der stumme Riese unserer Volleyballmannschaft für die Rettung meines Lebens verantwortlich sein? Hastig befreite ich mich aus seinem Griff und taumelte zwei Schritte zurück, was mich bei dieser Steigung fast wieder zu Fall gebracht hätte. „I-ich… ähm… danke.“, stotterte ich und strich eine verirrte Haarsträhne hinter mein linkes Ohr. Ich mied seinen Blick, hatte ich seit jeher einen riesigen Respekt vor Aone. Nicht alleine wegen seiner Größe, die wirklich beeindruckend war, sondern auch aufgrund dieser düsteren Aura die ihn stets zu umgeben und irgendwie nie zu verlassen schien. An der Schule gingen Gerüchte über ihn um, ehrlich gesagt glaubte ich kein einziges davon wirklich, und doch beeinflussten sie mein Denken in Bezug auf ihn. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er in die Hocke ging und etwas aufhob. Stumm hielt er mir schließlich zwei meiner drei Konserven hin, die er wohl mit den Füßen gestoppt haben musste, bevor er sich auch noch damit konfrontiert sah mich auffangen zu müssen. Überrascht nahm ich sie entgegen und blickte zu ihm auf. Er betrachtete mich mit schief gelegtem Kopf und… lächelte? Zum zweiten Mal klappte mir die Kinnlade herunter. Ich hatte Aone noch nie lächeln sehen, wenn man es denn als solches bezeichnen konnte. Eigentlich war es vielmehr ein Zucken seiner Mundwinkel. Immerhin.

Mit einem Nicken schob er sich an mir vorbei und machte sich daran die Höllenstraße zu erklimmen. Ich blickte ihm einen Moment verdattert hinterher. Versuchte den düsteren Aone mit dem fastlächelnden von eben in Einklang zu bringen. Irgendwie passten die Teile nicht zusammen. Neugierig wie ich seit jeher war, beschloss ich der Sache auf den Grund zu gehen. Also hechtete ich ihm nach, musste mein Tempo nach einem halben Dutzend Schritten allerdings wieder drosseln. Diese Straße und ich – absolut nicht kompatibel. „Danke.“, keuchte ich erneut, als ich zu ihm aufgeschlossen hatte. Er ignorierte mich, hielt seinen Blick stur geradeaus gerichtet. Mir vielen die beiden Einkaufstüten an seiner rechten Hand auf und ich fragte neugierig: „Bist du auf dem Heimweg, Aone-kun?“. Sein Blick flackerte zu mir herunter und ich meinte einen Funken Erstaunen darin erkennen zu können, bevor er wieder erlosch und von seinem üblichen stoischen Ausdruck abgelöst wurde. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Und… wohin… gehst du… dann?“, wollte ich wissen und hielt mir die schmerzende Seite. Seitenstechen. Prima, alles was man gerade gebrauchen konnte. Aone schien meine Schwierigkeiten, seinem Tempo folgen zu können, zu bemerken und passte sich kurzerhand meiner Schrittgeschwindigkeit ein. Dankbar nahm ich diese Freundlichkeit zur Kenntnis. „Also, wohin gehst du dann, wenn nicht nach Hause?“, hakte ich erneut nach, als ich sicher war nicht mehr einen qualvollen Erstickungstod erleiden zu müssen, und blickte zu ihm auf. Es dauerte einen Moment bis eine Antwort von ihm kam, die mich dann doch überraschte: „Tierheim.“.

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