Ziel eines Konfliktes oder einer Auseinandersetzung soll nicht der Sieg, sondern der Fortschritt sein.
- Joseph Joubert***
Wie blöd konnte man eigentlich sein? Ich schlug mir gegen die Stirn, der Ärger über mich selbst, zerfraß mich beinahe. Ich hatte es so eilig gehabt aus dieser Halle und von diesem Libero fort zu kommen, dass ich meine Schultasche komplett vergessen hatte. Blöderweise war mir diese Tatsache erst dann wieder in den Sinn gekommen, als ich bereits die Hälfte meines Heimweges hinter mir hatte. Zähneknirschend hatte ich wieder kehrt machen müssen, ganz getreu dem Motto „Was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen“. Nun stand ich, zum zweiten Mal an diesem Tag, vor der Tür zu der Sporthalle. Einen kurzen Moment blieb ich unschlüssig davor stehen. Sollte ich einfach hinein gehen oder vielleicht doch lieber darauf warten, bis sie fertig waren? Nach einem gedanklichen Hin und Her, entschloss mich schließlich für die erste Variante. Wieso auf die lange Bank schieben? Ich wollte ja lediglich meine Tasche abholen. Nicht mehr und nicht weniger. Mit einem bekräftigenden Nicken umschloss ich den metallenen Griff und drückte ihn hinunter. Ich zog an der Tür, doch sie rührte sich nicht. Panisch versuchte ich es ein weiteres Mal, doch das Ergebnis blieb dasselbe. Das Training der Jungs schien bereits beendet zu sein und ich stand somit vor verschlossenen Türen. „Scheiße.“, entfuhr es mir und strich mir fahrig durch die Haare, nur um sie anschließend zu raufen. Das durfte doch nicht wahr sein. Was sollte ich denn jetzt machen? Die Unterlagen und Bücher waren mir weniger wichtig, auch wenn ich mir schöneres vorstellen konnte als von einem der Lehrer abgekanzelt zu werden, weil ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Das viel größere Problem war, dass sich mein Tagebuch in dieser verflixten Tasche befand! Innerlich verpasste ich mir einen gewaltigen Tritt in den Hintern und scholt mich für meine eigene Blödheit. Panik begann mich zu erfassen und die wildesten Gedankengänge rasten durch meinen Kopf um in noch verrückteren Spekulationen zu enden. Was sollte ich machen, wenn jemand mein Tagebuch in die Finger bekam und darin las? Ganz klar, ich würde mir ein postwendend ein One-way-Ticket kaufen und auswandern müssen. Wobei... eventuell würden auch weniger drastische Maßnahmen, wie ein Umzug zum Beispiel, ausreichen. Eines stand jedenfalls fest: sollte jemand einen Blick auf meine geheimsten Gedanken werfen, dann konnte ich mich an dieser Schule definitiv nicht mehr blicken lassen. Die Peinlichkeit wäre einfach viel zu groß.
„Suchst du was?“. Ich fuhr erschrocken herum und sah Nishinoya wenige Meter von mir entfernt stehen. Er hatte die Hände in seinen Hosentaschen vergraben und blickte mir mit ausdruckslosem Gesicht entgegen. Mein Blick verfinsterte sich und ich zog es vor nicht zu antworten. Der Libero stieß ein entnervtes Seufzen aus und schüttelte leicht den Kopf. Ich konnte mir vorstellen, dass ihn mein Verhalten ziemlich frustrieren musste, doch es war mir einerlei. Er hatte es sich schließlich selbst zuzuschreiben. „Also wenn es um deine Tasche geht…“.
„Du hast sie gefunden?“, fuhr ich ihm aufgeregt dazwischen und machte einen Schritt auf ihn zu. „Nein.“ – enttäuscht ließ ich den Kopf hängen – „Hinata hat sie vorhin mitgenommen.“. Im ersten Moment war ich erleichtert darüber, dass mein Freund und kein anderes Teammitglied der Finder meiner Tasche war. Eigentlich sollte er sie problemlos als die meine erkannt haben, schließlich verbrachte er genug Zeit mit mir um sie mindestens einmal in meinem Besitz gesehen zu haben. Allerdings sprachen wir von Hinata - meinem verpeilten Kumpel, der stellenweise die Auffassungsgabe einer Erbse hatte und, zumindest für meinen Geschmack, neugieriger war als es mir momentan lieb war. Genau das war der Moment an dem meine Stimmung erneut in Schieflage geriet und ich inständig zu hoffen begann, dass der Rotschopf seine Griffel, nur dieses eine Mal, bei sich behalten und nicht herumgeschnüffelt hatte. Ich wog nachdenklich das Für und Wider ab und beschloss schließlich, mein Glück nicht weiter dem Zufall zu überlassen und meine Tasche umgehend aus Hinatas Gefangenschaft zu befreien. Auch wenn das einen Umweg von knapp einer Stunde für mich bedeuten würde. Nicht auszudenken, was Hinata tun würde, wenn er mein Tagebuch in die Finger bekommen sollte. Ein Schauder überlief mich und ich setzte mich mit gestrafften Schultern und entschlossen nickend in Bewegung. Hoch erhobenen Hauptes lief ich an Nishinoya vorbei, mied dabei aber den direkten Augenkontakt mit ihm. „Oi!“. Ich hielt widerwillig inne und warf ihm über die Schulter einen fragenden Blick zu. „Meinst du nicht, dass ein ‚Danke‘ vielleicht angebracht wäre?“.
„Wofür?“
„Wegen deiner Tasche?“, ein schiefes Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. Ich runzelte meine Stirn. „Wieso sollte ich dir dafür danken?“, hakte ich verständnislos nach – „Du hast sie doch gar nicht.“. Ich wandte mich wieder nach vorne und setzte meinen Weg unbeirrt fort. „Wohin gehst du?“, hörte ich den Libero hinter mir fragen und das beschleunigte Auftreffen der Gummisohlen auf den Asphalt verriet mir, dass er mir folgte.
„Meine Tasche holen.“.
„Um diese Uhrzeit noch?“.
„Was interessiert es dich denn?“, fauchte ich ihn ungehalten an, als er zu mir aufgeschlossen hatte. Er fuhr sich mit der Hand in den Nacken und sah mich frustriert an. „Naja.. du bist ein Mädchen.“. Ja, und? Was hatte das jetzt damit zu tun? „Gott… ich kann doch ein Mädchen um diese Uhrzeit nicht alleine durch die Dunkelheit laufen lassen.“, führte er aus und schaute mich schmollend an. Ich gab einen genervten Laut von mir. Wollte dieser Balldieb sich jetzt allen ernstes als mein Ritter in schimmernder Rüstung aufspielen? Zu freundlich, aber ganz bestimmt nicht notwendig. Ich kam auch prima allein zurecht.
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Was die Liebe und das Leben so mit sich bringt
Short StoryEine kleine Oneshot- und Kurzgeschichten-Sammlung von und mit unseren Lieblingsvolleyballern. ☺️