Beruhigend strich ich Zoey über den Rücken und redete ihr gut zu. Ich hätte Tanner in diesem Moment am liebsten mal so richtig die Meinung gegeigt und ihm gesagt, dass er sowas einfach nicht machen konnte. Allerdings konnte ich Zoey jetzt nicht alleine lassen, immerhin war ich diejenige, die für sie da sein musste. Andererseits sollte sie vielleicht ihre beste Freundin anrufen, oder so.
Ich lief schnell ins Bad und reichte ihr einen nassen Waschlappen, mit dem sie sich die Überreste ihrer Schminke aus dem Gesicht wischte. „Willst du es mir erzählen?", fragte ich einfühlsam. Obwohl ich mich noch nie in ihrer Lage befunden hatte, konnte ich mir nur zu gut vorstellen, dass sie vermutlich jemandem ihr Herz ausschütten wollte.
Als Antwort bekam ich nur ein gequältes Schniefen, das wohl auch als Grunzen durchgehen könnte. War das jetzt ein Ja, oder ein Nein? Sicher war ich mir da nicht, also wartete ich einfach ab, bis sie sich soweit beruhigt hatte. Wir saßen in ihrem Zimmer, das sie mir bei unserer Besichtigungsrunde schon gezeigt hatte.
Es war typisch Mädchenhaft eingerichtet und es gab viel zu viel Rosa in diesem Zimmer. Mein Geschmack war es nicht, aber jedem das Seine. „Ich mag ihn wirklich!", heulte sie in meine Schulter. Das war ziemlich offensichtlich, aber ich hütete mich, ihr das zu sagen.
Stattdessen wartete ich einfach ab. Sie würde schon noch früh genug mit der Sprache rausrücken. Warum sie das einer eigentlich völlig Fremden, wie ich sie war, anvertraute, war mir ein Rätsel. „Weißt du, er war oft hier, als wir noch jünger waren und Dad konnte ihn nie leiden. Frag mich nicht warum, im Gegensatz zu Jason ist er nämlich wirklich umwerfend!
Als sie vierzehn waren, hat Jason mich immer mit irgendwelchen Dingen aufgezogen, aber Kyle hat mich immer verteidigt. Er war immer so nett und süß zu mir, bis ich mich dann mit 14 total in ihn verliebt habe. Ich konnte es ihm ja wohl schlecht sagen, weil ich für ihn ja nur die kleine Schwester des besten Freundes bin, aber ich wäre so gerne mehr!"
Wenn sie ihn schon so lange kannte, wieso verbat ihr Vater ihr dann jetzt erst, mit ihm zu sprechen? Wo war denn da bitte die Logik? Zoey brauchte ohnehin erst einmal eine Pause, in der sie sich die Nase putzte und eine Decke für uns holte.
Nachdem sie es sich gemütlich gemacht hatte, fuhr sie mit ihrer Erzählung fort: „Jedenfalls hatte ich immer das Gefühl, dass er unerreichbar für mich wäre. Du solltest nämlich wissen, dass er einer dieser wenigen gutaussehenden Jungs in unserem Ort ist." Sie lächelte kurz, dann verfinsterte sich ihre Mine allerdings wieder.
„Als er vor wenigen Wochen mit seiner Freundin Schluss gemacht hat, hatte ich die Hoffnung, dass er mich endlich bemerken würde, aber bisher stecke ich immer noch in der Freundschaftszone fest. Und selbst da bin ich nicht fest integriert, weil mein Bruder mich immer als totalen Loser und Streber darstellt, wenn Kyle dabei ist. Und jetzt muss ich mich auch noch von ihm fernhalten. Ich weiß echt nicht mehr weiter, Cora."
Die Tränen rannen in Sturzbächen ihre Wangen hinab. Auch wenn es mir schwerfiel das zu sagen, aber sie war gewissermaßen selbst schuld. Zumindest letzteres ging definitiv auf ihr Konto. „Wieso hast du dann zugestimmt, als dein Vater meinte, du solltest dich von ihm fernhalten? Wenn er dir was bedeutet, solltest du ihn sehen dürfen!"
Ich versuchte ihr klar zu machen, dass es ihr eigenes Leben war und dass ihr Vater nicht das Recht hatte, ihr den Umgang mit jemandem zu verbieten, den sie mochte. Wie kam ein Vater überhaupt auf eine solche Idee? Wenn mein Vater es auch nur wagen würde, hinge wochenlang der Haussegen schief. „Ich kann meinem Vater doch nicht widersprechen!", rief sie entsetzt.
Stutzig sah ich sie an, denn meine Meinung sah da geringfügig anders aus. Man sollte doch wohl seine Interessen gegenüber seinen Eltern vertreten und seinen eigenen Willen haben dürfen. Wir waren immerhin in einem Land mit Meinungsfreiheit. „Warum solltest du das nicht tun? Genau das ist es doch, was du machen müsstest!", riet ich ihr wahrheitsgemäß.
Wenn sie es nicht einmal versucht, könnte sie ihren Vater wohl kaum umstimmen. Allerdings machte Tanner auch nicht wirklich den Eindruck, dass er leicht umzustimmen zu sei. „Aber ich will meinen Vater nicht enttäuschen. Ich will nicht, dass er mich so ansieht, wie er es bei Jason tut. Diese Trauer und diese Enttäuschung würden mir das Herz brechen. Cora, ich kann ihm nicht widersprechen, oder mich ihm gar widersetzten!"
Ich schüttelte mitleidig den Kopf, doch ich konnte nicht zulassen, dass sie sich das selbst antat: „Zoey, wenn er dich deshalb so ansieht, hat er eine Tochter wie dich nicht verdient. Du solltest tun und lassen dürfen, was du willst, was die Liebe betrifft. Ich war zwar noch nie verliebt, aber ich denke, du willst bei ihm sein, mit ihm reden und ich kann nicht zulassen, dass du das alles verpasst!"
Sie blickte mich verzweifelt an und schob die Unterlippe vor. Als wüsste sie, was ich dachte, schüttelte sie wie wild den Kopf. Entsetzt rief sie aus:„Nein! Du darfst nicht mit ihm reden. Er wird nur wissen wollen, warum mir so viel daran liegt, mit Kyle reden zu dürfen. Obwohl er mich nur beschützen will, das würde alles nur noch schlimmer machen."
Ein weiteres Taschentuch ging dabei drauf, als sie versuchte sich die Nase zu putzen. Ich war noch nie gut in Mädchengesprächen gewesen, aber ich fand, dass ich das wirklich super meisterte. Meine Tipps waren immer das dermaßen offensichtliche und selbst ein fünfjähriges Kind hätte dieselben Ratschläge verteilt.
„Du bist 16, da solltest du doch langsam wissen, was gut für dich ist und was nicht. Außerdem bist du nicht so dumm und wirfst dich an jemanden ran, der dich verletzten würde. Komm schon Zoey! Irgendjemand muss doch was dagegen tun, wenn du das schon nicht selbst machst!", empörte ich mich und schaute sie eindringlich an.
Hoffentlich würde sie meinen Rat befolgen und ihrem Vater sagen, dass sie sich nicht von Kyle fernhalten würde. Zoey schien nicht der Typ Mädchen zu sein, der sich völlig grundlos verliebte, also musste ja etwas an diesem Kyle sein, das sie mochte. Es wäre so dermaßen dumm ihn gehen zu lassen, und das konnte ich mit Bestimmtheit sagen, obwohl ich ihn nicht einmal kannte.
„Hör zu Cora, ich werde schon über ihn hinwegkommen. Bestimmt merke ich schon bald, dass ich mir die Gefühle nur eingebildet habe. Jungs kommen und gehen, aber meinen Dad will ich nicht verlieren." Sie stand seit zwei Jahren auf diesen Jungen und wollte mir ernsthaft weißmachen, dass sie sich die Gefühle nur eingebildet hatte?
Allein auf diese abwegige Idee wäre ich nie gekommen. Außerdem würde sie ihren Vater deshalb ja nicht gleich verlieren. Vielleicht hatte sie aber auch einfach nur Angst, von Kyle abgewiesen zu werden.
„Du willst also niemals was mit einem Jungen anfangen, weil dein Vater etwas dagegen hat? Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein! Verdammt, du magst ihn schon so lange und willst über ihn hinwegkommen? Du wirst dich noch in zwanzig Jahren fragen, was gewesen wäre, wenn du dich getraut hättest deinem Vater zu widersprechen. Was, wenn er deine Gefühle erwidert und alles was zwischen euch steht dein Vater ist?"
Ich schüttelte erneut langsam den Kopf: „Das kannst du doch nicht wirklich wollen!" Sie schien gar nicht zu beachten, was ich gesagt hatte. Entweder sie war plötzlich taub geworden, oder sie wollte es schlichtweg nicht hören. Bei ihr konnte ich mir inzwischen durchaus beides vorstellen.
„Wäre es okay für dich, wenn ich jetzt schon ins Bett gehe? Ich brauche jetzt Zeit zum Nachdenken", murmelte sie leise, bevor sie sich das nächste Taschentuch griff. Wenn sie jetzt noch anfing, Liebesfilme zu schauen und Eis in Massen zu verdrücken, würde sie wirklich alle Klischees bedienen. Ich nickte verständnisvoll: „Klar, kann ich wirklich verstehen. Außerdem muss ich selbst ja auch noch ein bisschen Schlaf nachholen."
Dabei hatte ich doch schon so viel Zeit auf dem Sofa verbracht! Zoey stand unsicher auf und lief auf wackeligen Beinen aus dem Zimmer. Bestimmt ging sie Zähneputzen oder so.
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Far away
RomanceEin Auslandsjahr ist ja an sich schon total spannend. Neue Leute, neue Schule und neue Cora. Jedenfalls war das Ganze in Coras Vorstellung irgendwie anders. Es war einfacher. Das ist es in der Vorstellung wahrscheinlich immer. Es war leichter, vor a...