Kapitel 2 ~ Mädchengespräche und mitternächtliche Besuche #4

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Wie weit hatte mich der Sturz nur in meiner Entwicklung zurückgeworfen? „Was ist eigentlich mit dir los? Hast du jetzt eine Gehirnerschütterung oder sowas?“, fragte er, nachdem ich immer noch nicht tat, was er wollte. Ich hatte keine Ahnung, was genau mit mir los war, aber ich hatte noch keine sonderlichen Kopfschmerzen. Klar, er tat weh, aber das war zu erwarten gewesen.

„Ich will tanzen“, rief ich voller Vorfreude aus. „Pst!“, herrschte er mich an und hielt mir den Mund zu. Ich inhalierte seinen Geruch, der genauso war, wie der des Bettes und der des Pullovers. Es war ein schöner, warmer Duft, der von ihm ausging und automatisch schaute ich wieder in seine braunen Augen, die mich ärgerlich fixiert hatten.

Vereinzelt konnte ich grüne Tupfen darin erkennen, die allerdings zwischen all dem Braun kaum auszumachen waren. Mit großen Augen blickte ich ihn an und schob meine Hand von seinem Mund: „Ich will tanzen!“ Er knurrte etwas Unverständliches und nickte dann widerwillig: „Wenn es unbedingt sein muss, dann tanzen wir eben, aber du musst mir versprechen, danach zu schlafen und morgen niemandem etwas von meinem kleinen Besuch zu erzählen! Okay, das klang falsch, aber du weißt hoffentlich, was ich gemeint habe.“

In dem Moment hätte ich vermutlich zu allem zugestimmt, nur um zu tanzen. Schnell, sofern es „schnell“ ging, rannte ich zu meiner noch unausgepackten Tasche und kramte meinen Mp3-Player hervor. Jetzt wo das Handy daheim lag, war ich doch ganz froh, das alte Ding zu haben. Jason schaute mich an, als hätte ich den Mp3-Player gerade aus der Steinzeit herbeigezaubert, aber ich ignorierte seinen Blick.

Stattdessen ging ich auf meine Playliste mit Lieblingsliedern und ließ ein beliebiges Lied laufen. Ich steckte Jason den einen Ohrstöpsel ins Ohr und mir den anderen. Grinsend erkannte ich „Flashed Junk Mind“ von Milky Chance und begann mich willkürlich zu bewegen. Sicher sah es auch jetzt aus, als hätte ich einen Schlaganfall, jedoch kümmerte es mich herzlich wenig.

Es würde mir morgen noch peinlich genug werden. Jason ließ das Lied über sich ergehen und schob mich dann kurzerhand auf das Bett zu, auf das er mich hinunter drückte. Kurz wehrte ich mich noch, aber sein Argument stimmte mich schließlich um. „Du hast versprochen, jetzt zu schlafen.“ Das stimmte, also blieb ich tatsächlich liegen und schloss die Augen, bis mir einfiel, dass da ja noch jemand war, der vielleicht auch schlafen wollte.

„Wo willst du schlafen, Jason?“ Geistesgegenwärtig und selbstlos wie ich eben war, wollte ich schon beiseite rutschen, aber er widersprach mir. „Es gibt diesen unglaublich bequemen Ort namens Fußboden“, erwiderte er und ich wusste, dass er verschmitzt grinste. Ich hatte heute schon so unglaublich viel Schaden angerichtet, da konnte es kaum noch schlimmer werden, also traute ich mich tatsächlich, ihm vorzuschlagen, dass er ja mit mir in seinem Bett nächtigen könnte.

Im Normalzustand wäre es nie soweit gekommen, doch er lehnte sowieso ab. „Ich will deinen Zustand ja nicht ausnutzen!“, lachte er, bevor er es sich auf dem Boden bequem machte, sofern das überhaupt möglich war. „Du willst nicht vielleicht das Licht ausmachen, bevor wir einschlafen?“, fragte ich, immer noch mit geschlossenen Augen.

„Nein, sonst kann ich ja gar nichts mehr erkennen.“ Nachdem ich kurz über seine Antwort nachgedacht hatte, antwortete ich: „Das ist der Sinn von geschlossenen Augen, also mach das scheiß Licht aus oder wir müssen nochmal tanzen!“ Die Drohung zeigte Wirkung, denn kurz darauf wurde es stockdunkel im Zimmer. Ein plötzlichen Eingebung folgend, fragte ich leise: „Wie ist dein Kumpel Kyle so?“

Das war doch mal wirklich unauffällig, wenn man bedachte, dass ich ihn eigentlich gar nicht kennen dürfte. Ich hörte den Teppich rascheln, dann ertönte seine Stimme direkt neben mir. „Wieso willst du das wissen?“ Vor Schreck schaffte ich es doch tatsächlich aus dem Bett zu fallen. Das ging natürlich nicht, ohne direkt auf ihm zu landen. Anstatt mich von sich runter zu schieben ließ er mich einfach genau da liegen, als hätte er es nicht einmal bemerkt.

„Sag schon!“ Ich konnte ihm anhören, dass er misstrauisch war. Am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen und mich selbst verflucht! Wie sollte ich ihm das denn jetzt erklären? Ich krabbelte schnell von ihm runter, wurde mal wieder rot und stammelte: „Nur so?“ Es war zwar mehr eine Frage, als eine Aussage, aber mehr bekam ich nicht zustande.

Obwohl er mir meine Frage definitiv nicht als ein „nur so“ abkaufte, antwortete er mir nach kurzem Zögern: „Wir kennen uns seit Ewigkeiten und haben zusammen echt viel durchgemacht. Seine Eltern sind fast so schlimm wie meine, nur auf ganz andere Art, deshalb ist er letzen Monat ausgezogen.

Leider kann er sich die Wohnung nicht wirklich leisten und wird deshalb vermutlich bald auf der Straße landen. Ich würde ihm zwar gerne helfen, aber ich hab selber kein Geld. Mum und Dad können mich nicht leiden“, er lachte gequält, bevor er mit zitternder Stimme weitersprach, „Zoey war schon immer ihre perfekte Tochter, während ich einfach nicht in ihre heile Welt passte. Entweder es waren meine Noten, oder meine Freunde. Aber Kyle war immer da, ob es ihm gerade selbst dreckig ging, oder nicht. Scheiße, normalerweise bin nicht so emotional, aber wir sind zusammen durch dick und dünn und er ist wie ein besserer Bruder für mich.“

Ich musste grinsen; ich wollte auch eine Freundin, von der ich so reden konnte.Klar, Dessy war meine beste Freundin, doch wir hatten zusammen überhaupt nichts durchgemacht und sie gab sich nur mit mir ab, weil die anderen sie nicht wollten. Noch bevor ich sonderlich viel nachdachte, sprach ich genau das aus, was ich gerade dachte: „Hört sich nach der perfekten Freundschaft an.“ Inzwischen lag ich wieder im Bett und wurde langsam schläfrig, was nicht zuletzt an seiner beruhigenden, tiefen Stimme lag.

„Irgendwas in meinem Leben muss ja auch perfekt sein“, murmelte er bitter. „Ja, deine Eltern sind nicht gerade zimperlich, wenn es um dich geht“, antwortete ich gähnend und stellte erst im Nachhinein fest, wie verletzend das Klang. Nuschelnd murmelte ich ein: „Entschuldigung, so meinte ich das nicht.“ Daraufhin sagte er nichts mehr und so schlief ich mit dem Gefühl ein, endlich etwas über diesen ach so schlimmen Jason erfahren zu haben, der in Wirklichkeit einfach nur von seinen Eltern niedergemacht wurde.
--------------------------------------------------------------- Frohes neues Jahr :*

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