Kapitel 3 ~ Gehirnerschütterung #4

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Leider war mein Schlaf dann doch nicht so geruhsam, wie ich gehofft hatte, da ich zum Teil wirklich peinliche Gespräche mit Jason führte. Ich plapperte irgendetwas davon, dass seine Augen schön seien und obwohl sie das auch wirklich waren, musste ich ihm das ja nicht direkt unter die Nase reiben!

Als er mir dann sagte, meine Augen seien auch schön, fühlte ich ein seltsames Flattern in meinem Magen und ein Lächeln schlüpfte in mein Gesicht. Oder eben das von meinem Traum-ich, das konnte ich nicht mit Sicherheit sagen.

Mich wunderte es nicht wirklich, dass ich mich sehr über das Kompliment freute, denn egal von wem es war, es gefiel mir einfach, kleine Nettigkeiten zu erhalten. Es war nicht so, dass mir jemand dauerhaft einreden sollte, ich wäre wunderschön, denn das wäre schlichtweg gelogen.

Ich war soweit relativ zufrieden mit meinem Aussehen und konnte es einfach nicht leiden, wenn wirklich hübsche Mädchen sich kontinuierlich einredeten, sie seien hässlich. Was hatte das denn bitte für einen Sinn?

Sie mussten doch ohnehin so bleiben, wenn sie sich nicht unbedingt unter das Messer legen wollten! Stattdessen sollten sie sich mal mit dem zufriedengeben, was sie hatten und um das andere Mädchen sie beneideten.

Und schon wieder musste ich mich im Traum total blamieren, indem ich Jason jetzt dazu zwang, mit mir zu tanzen. Leider hatte ich keinerlei Kontrolle über das, was ich tat, sonst hätte ich mich sofort davon abgehalten.

Widerwillig tanzte er dann tatsächlich mit, obwohl er sich im Grunde überhaupt nicht bewegte und ich mich fühlte, wie ein betrunkener Hund. Keine Ahnung, wie sich ein betrunkener Hund fühlt, aber so schnell würde ich das vermutlich auch nicht herausfinden.

Es sei denn, ich würde mich in einem Simulator befinden und...

Dieser Sturz musste wohl doch mehr Schaden angerichtet haben, als es zuerst den Anschein gemacht hatte. Das Interessante war, dass der Traum wirklich realistisch wirkte, was bei mir eigentlich nicht normal war.

Für gewöhnlich beinhalteten meine Träum Fabelwesen und sonstige Dinge, die es nicht gab. Manchmal konnte ich auch durch bloße Armbewegung wie ein Huhn fliegen. Das waren meine Lieblingsträume, denn in ihnen fühlte man sich immer so schwerlos und als ob man alles erreichen könnte, ohne dafür arbeiten zu müssen.

Danach war das Erwachen aber auch immer ziemlich schmerzlich, weil ich hoffte, meine Träume wären wahr. In der dritten Klasse war ich einmal wild mit den Armen wedelnd über den Schulhof gerannt, weil ich dachte, ich könnte tatsächlich fliegen.

Nicht nur meine Mitschüler hatten dumm geguckt, als es dann leider doch nicht funktionierte und ich widererwarten nicht abhob. Allerdings hätten sie sicher auch nicht schlecht geschaut, wenn ich die Gesetze der Schwerkraft überwunden hätte und einfach weggeflogen wäre.

Ein Kindheitstrauma, das ich nie vergessen würde, denn danach hatten alle über mich gelacht und mich das Hühnermädchen genannt. Meine Mutter hatte ein viel schöneres Wort gefunden: Wolkenträumer.

So nannte sie mich heute noch manchmal, wenn ich völlig abwesend war, oder einfach nicht darauf achtete, was mir erzählt wurde. Für meinen kleinen Bruder hatte sie ebenfalls einen Spitznamen, der zwar nicht weniger liebevoll gemeint war, aber wesentlich dämlicher klang: Bällchen.

Dieser Name ließ sich auf die Fußballbegeisterung von Simon zurückführen, unter der ich früher besonders gelitten hatte. Wer wurde nämlich immer dazu gedrängt, sich für ihn vor die Garagentür zu stellen, um seine Schüsse zu halten?

Es war zwar nicht schlecht für meine Reflexe gewesen, denn nach einiger Zeit war ich wirklich einigermaßen gut, aber Simons Begeisterung wurde nicht etwa geringer, sondern wuchs eher mit jedem Tag.

Seine Schüsse wurden auch nicht schwächer und mehr als einmal hatte ich ein blaues Auge von einem besonders heftigen Schuss in mein Gesicht gehabt. Es konnte also wirklich niemand behaupten, ich hätte nicht viel für ihn getan.

Als ich dann allerdings in die weiterführende Schule kam, fand ich einfach keine Zeit mehr, jeden Tag mit ihm zu trainieren und darunter litt schließlich auch unsere Beziehung. Er war noch zu jung, um zu verstehen, dass ich zwar wollte, aber schlichtweg nicht konnte.

Er war mehr als drei Jahre jünger als ich und kam damals gerade in die erste Klasse. Man sollte zwar meinen, er wäre damals schon reifer gewesen, aber vermutlich wollte er es auch gar nicht verstehen.

Zu dieser Zeit hatten wir extrem oft gestritten, was dann wieder besser wurde, als ich in die 11. kam. Dazwischen lagen zwar einige Jahre, aber zumindest stritten wir nicht mehr so oft. Meine Eltern waren auch froh darüber, obwohl unser Verhältnis nie wieder so gut wurde, wie es einst war.

Trotzdem hatte er mich einige Male mit zum Training genommen, wo ich auch nochmal einiges gelernt hatte. Wirklich mit dem Sport anfreunden tat ich mich nie, aber was tat man nicht alles für seinen kleinen Bruder?

Im Gegensatz zu mir, machte er dann zwar doch eher wenig für mich, aber ich konnte gut damit leben, denn wenn er mich mal um Hilfe bat, ging es fast immer nur um Mädchen. Was dieses Thema betraf, war es für mich praktisch unmöglich ihm zu helfen.

Es war zwar ärgerlich und auch äußerst deprimierend, aber er hatte seine erste Beziehung schon lange vor mir gehabt. Inzwischen hatte er seine dritte, während ich noch nicht mal die Nummer eins geschafft hatte.

Dabei war er gerade erst 14 geworden und ich würde in einem halben Jahr schon 18 werden. Wie gesagt, äußerst deprimierend, aber wenigstens konnte ich dann behaupten, ich würde auf den Richtigen warten.

Das entsprach der Wahrheit, aber wie sollte ich denjenigen erkennen, wenn es soweit war? So wie ich mich kannte, würde ich ihn sicher nicht ansprechen und meine Chance wäre für immer vertan. Allein diese Vorstellung beunruhigte mich zutiefst.

Nicht, dass ich vorhatte, auf ewig Single zu bleiben, aber die meisten Mädchen in meinem Alter hatten nun mal ihren ersten festen Freund schon gehabt. Ich hatte sogar von einem Paar aus der Klasse über mir gehört, die heiraten würden.

Niemals könnte ich schon nächstes Jahr heiraten! Wen denn auch?, fragte meine innere Stimme gehässig, aber ich bemerkte ihren traurigen, enttäuschten Unterton trotzdem.

Anstatt jetzt in Gedanken zu versinken und meinen Traum zunichte zu machen, in dem wenigstens mal ein Junge auftauchte, der nett zu mir war, konzentrierte ich mich wieder auf die Bilder, an die ich mich morgen sicher nicht mehr erinnern könnte.

Jason schaffte es dann tatsächlich noch, mein aufmüpfiges Traum-Ich ins Bett zu bringen. Obwohl meine neue extrovertierte Seite ihm anbot, sich neben mich zu legen, lehnte er dankend ab und machte es sich neben dem Bett gemütlich. Sollte ich jetzt beleidigt sein, dass er nicht mit mir in einem Bett schlafen wollte?

Sicher war ich mir nicht, weshalb ich die Enttäuschung schnell verdrängte. Vielleicht konnte er mich eben einfach nicht leiden, was ich bei meinem bisherigen Verhalten wirklich verstehen konnte. Normalerweise war ich gar nicht so, aber wie sollte ich ihm das beweisen?

Also fragte ich ihn nach Kyle aus, obwohl mein Mund sich dabei schneller bewegte, als ich mit dem Denken hinterher kam. Alles was ich zu Jasons und Kyles Freundschaft sagen konnte, war, dass sie perfekt zu sein schien.

Eine solche Freundschaft wollte ich auch, aber wo fand man schon eine solche Freundin? Von mir aus konnte es auch ein Junge sein, solange er mit mir durch dick und dünn ging und sich immer meine Sichtweise anhörte, bevor er über meine Entscheidungen sauer wurde.

Jemand, der mich zum Lachen brachte, selbst wenn es mir schlecht ging und jemand, der zu mir hielt, wenn es niemand anderes tat. Aber solche Freundschaften existierten nur im Märchen, selbst wenn ich nicht wollte, dass diese Aussage wahr war.

Allerdings waren Kyle und Jason wohl der lebende Beweis für eine solche Bindung, von der ich nur träumen konnte. Schließlich ging der Traum einfach in pure Dunkelheit über, die um einiges entspannender war, als die ständige Angst mich zu blamieren.

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