Außer mir hatte wohl niemand mit diesem Statement gerechnet, denn sämtliche Köpfe wurden abrupt herumgedreht. Machten die jetzt wirklich so ein großes Aufsehen darum, dass Jason mich geküsst hatte?
Allerdings schaute mich nur die eine Hälfte der Mädchen an, während die andere Hälfte Dessy ansah, die zu meiner Verwunderung bisher ziemlich zurückhaltend war.
Zoey schob sich beschützend vor mich und versperrte mir so die Sicht, was aber auch den Effekt hatte, dass mich glücklicherweise niemand mehr so anstarren konnte.
„Könntest du das noch ein bisschen spezifizieren, bevor hier dämliche Gerüchte aufkommen? Ich weiß ja, dass du gerne Unwahrheiten in der Weltgeschichte herumerzählst.“
Ich hörte das Klicken von Absätzen in der Stille, die plötzlich herrschte. Als Claire wieder sprach, wusste ich augenblicklich, warum sie und Zoey keine Freunde mehr waren. In arrogantem Tonfall sagte sie: „Jedem hier ist klar, dass es wohl kaum das Mauerblümchen war, mit dem du dich immer abgeben musst. Da brauchen wir nichts zu spezifizieren, denn es ist offensichtlich, dass er ein Auge auf Desiree geworfen hat.“
Das tat weh, obwohl ich versuchte, ihre Worte auszublenden. Es war zwar wahr, aber dennoch gestand ich mir nicht gerne ein, dass ich ein Mauerblümchen war. Natürlich würde jeder Junge sich für Dessy entscheiden, wenn er die Wahl hätte, aber das brauchte man mir doch nicht auch noch andauernd unter die Nase zu reiben!
„Was macht dich da so sicher? Er ist immer noch mein Bruder und hat im Gegensatz zu dir Geschmack.“ Verzweifelt stellte ich fest, dass das hier die nächst schlimmer Art eines Zickenkrieges war und ich keine Ahnung hatte, wie ich die beiden zum Aufhören bringen sollte.
Die Ausrufe der anderen Mädchen machten es da auch nicht besser: „Bitchfight! Bitchfight! Bitchfight!“ Dieses Verhalten konnte man vielleicht Grundschülern durchgehen lassen, aber wir waren in der elften Klasse und sollten uns wirklich reifer verhalten.
Zu meinem Glück steckte just in diesem Moment die Lehrerin ihren Kopf durch die Tür, weshalb alle augenblicklich verstummten. „Ihr seid ja immer noch nicht umgezogen“, empörte sie sich.
Sie schaute einmal wütend in die Runde, bevor sie uns mit einigen Runden um die Halle drohte und dann verschwand. Schweigend und so schnell wir konnten, zogen wir uns um und standen bereits einige Minuten später in der Sporthalle.
„Warte mal Cora!“, rief mir eine nur allzu gut bekannte Stimme nach, als ich gerade mit einem langsamen Trab beginnen wollte. Zögernd blieb ich stehen und bedeutete Zoey, dass sie nicht auf mich warten sollte.
Nachdem ich mich zu Dessy abfallen hatte lassen, schwiegen wir eine Weile nur, bis sie zögerlich das Wort ergriff. „Ich wollte mich für Claire bei dir entschuldigen. Sie hat das mit dem Mauerblümchen sicher nicht so gemeint, denn du bist keines.“
Überrascht sah ich sie von der Seite an; das hatte ich nicht von ihr erwartet. Vielleicht hatte ich zu wenig an das Gute in ihr geglaubt und sie zu Unrecht als meine beste Freundin ersetzt.
Sie konnte ja schließlich nicht wissen, dass ich Jason mochte und nicht unbedingt begeistert davon war, dass sie ihn ebenfalls zu mögen schien. Vielleicht sollte ich ihr einfach sagen, dass sie bitte ihre Finger von ihm lassen sollte. „Ich muss dir was erzählen“, setzten wir gleichzeitig an, woraufhin die Anspannu
ng ein Wenig von uns abfiel und wir beide lachen mussten. „Du fängst an“, bestimmte ich lächelnd und etwas außer Atem, da es vielleicht nicht die beste Idee gewesen war, während dem Laufen zu lachen.
„Du hast es ja vorhin sicher schon mitbekommen… Also, ich mag Jason und er scheint mich auch zu mögen, weshalb ich und Claire eine Party schmeißen werden, bei der wir uns vielleicht ein bisschen besser kennenlernen können. Bei ihm habe ich zum ersten Mal seit langem wieder das Gefühl, dass er der Richtige sein könnte.“
Ich spannte sämtliche Muskeln in meinem Körper an, um nicht zusammenzusacken. Na super, jetzt konnte ich ihr ja wohl kaum sagen, dass sie ihn doch bitte mir überlassen sollte.
„Das freut mich für dich“, würgte ich heraus und röchelte. Dessy schien es zum Glück nicht aufzufallen, oder sie dachte sich einfach nichts dabei. „Und jetzt zu dir. Was gibt es neues im Leben meiner besten Freundin?“
Die Bezeichnung beste Freundin versetzte mir einen schmerzhaften Stich, doch ich konnte nicht lange darüber nachdenken, da sie mich erwartungsvoll ansah. Was sollte ich ihr denn jetzt erzählen?
Kurz druckste ich herum, um Zeit zu schinden, doch zum wiederholten Male heute rettete mich die Sportlehrerin, die uns mit einem kurzen Pfiff in ihre Trillerpfeife signalisierte, uns bei ihr zu versammeln.
„Erzähl es mir einfach später. Wie wäre es mit einem Eis nach der Schule? Nur wir beide, wie in guten, alten Zeiten?“ Sie zwinkerte mir zu, während sie mir ihren Vorschlag unterbreitete, und damit die Erklärungen der Lehrerin übertönte. Ergeben nickte ich und leider wusste ich jetzt schon, dass ich es später noch bereuen würde.
*~*~*~*~*~*~*~*~*~*
„Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Glück mit ihm.“ Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Fassungslos schob ich mir einen riesigen Löffel Eis in den Mund, um mein großes Mundwerk zu stopfen.
„Danke, das werde ich sicher brauchen können. Aber nun nochmal zu heute Morgen; was wolltest du mir eigentlich erzählen?“ Ich hatte mir den ganzen Tag den Kopf darüber zerbrochen, was ich ihr sagen sollte und war dennoch nicht zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen.
„Unwichtig“, winkte ich ab und versuchte das Gespräch wieder in Richtung Jason zu lenken. Klar war es ziemlich gruselig, dass ich Dessy aushorchte, aber zu meiner Verteidigung musste man auch sagen, dass er mir gar keine andere Wahl ließ.
Von sich aus erzählte er mir nämlich so gut wie gar nichts, zumindest kam es mir so vor. Wenn ich aber länger darüber nachdachte, hatte er mir im Keller einiges von sich erzählt, das er sicher nicht jedem anvertraute.
„Nana, als ob etwas, das du mir erzählen würdest, unwichtig wäre.“ Bevor ich etwas erwidern musste, steckte ich mir lieber noch einen Löffel von meinem Eis in den Mund.
Also gut, wenn sie unbedingt etwas wissen musste, das mich beschäftigte, dann sollte sie doch: „Ich habe überlegt, die 11. Klasse doch nicht zu wiederholen, und stattdessen alles nachzuholen. Das würde zwar ziemlich viel Stress bedeuten, aber ich habe ja sowieso nichts Besseres zu tun. Ich weiß, dass wir geplant haben, zusammen zu wiederholen, aber inzwischen bin ich mir da eben nicht mehr so sicher.“
Abrupt beendete ich meine Erklärung und schaute meinem Eis beim Schmelzen zu. Dessy sagte eine Weile gar nichts, weshalb ich annahm, dass sie sauer war. Übelnehmen könnte ich es ihr nicht, immerhin hatten wir gemeinsam wiederholen wollen, da wir beide eher Einzelgänger waren und wir nur uns hatten, aber inzwischen sah ich das Ganze anders.
Normalerweise beharrte ich lange auf eine Entscheidung, doch dieses Mal war mir einfach erst im Nachhinein klar geworden, dass ich selbst daran schuld war, dass nur Dessy meine Freundin war.
Ich hatte mich immer an ihr festgeklammert, obwohl ich wahrscheinlich auch noch andere Freunde hätte finden können. Wenn ich jetzt aber die Klasse wechseln würde, machte das vermutlich alles nur noch komplizierter und ich hätte gar keine andere Wahl mehr, als mich auch weiterhin so von Dessy abhängig zu machen.
„Ich muss dann gehen, ich und Claire haben noch viel für die Party vorzubereiten. Du und Zoey könnt sicher auch kommen. Wir sehen uns.“ Damit stand sie auf, legte Geld auf den Tisch und ging, während ich nur verdattert dasaß.
Hatte sie überhaupt gehört, was ich gesagt hatte? Oder war es ihr einfach egal? Manchmal konnte einem dieses Mädchen wirklich Rätsel aufgeben, die unlösbar schienen.
Und dennoch war ich froh, mich sozusagen mit ihr versöhnt zu haben. Das mit Jason drängte ich in den Hintergrund, während ich über die Freundschaft zu Dessy nachdachte. War sie nun meine Freundin, oder nicht?
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Far away
Roman d'amourEin Auslandsjahr ist ja an sich schon total spannend. Neue Leute, neue Schule und neue Cora. Jedenfalls war das Ganze in Coras Vorstellung irgendwie anders. Es war einfacher. Das ist es in der Vorstellung wahrscheinlich immer. Es war leichter, vor a...