Kapitel 1 ~ Die Ankunft #3

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Mit Mühe und Not hatte ich meinen viel zu vollen Koffer nach oben transportiert und brauchte deshalb erst einmal eine Pause. Völlig außer Puste ließ ich mich auf das Sofa fallen. Es war bequem, nicht zu weich, nicht zu hart, genauso wie ich es mochte.

Allerdings blieb mir die Zeit zum Entspannen nicht allzu lange, denn jetzt hieß es wohl oder übel Schrankeinräumen. Mein Blick fiel auf die grüne Uhr, die links über meinem Kopf hing. Sie war einer der wenigen Farbtupfer in dem ansonsten schlicht eingerichteten Raum und zeigte mir an, dass es kurz vor drei war.

Demnach würde Zoey wohl bald von der Schule nach Hause kommen, was bedeutete ich würde sie endlich kennenlernen. Ich war total neugierig auf sie. Hoffentlich war sie keine Tusse, die jeden Tag mit mir Shoppen gehen würde, oder irgendwelche Schminkversuche an mir durchführte!

Auch wenn ich das von Dessy schon gewöhnt war, wollte ich doch erst einmal von so etwas verschont bleiben. Allerdings erschien Sahra ja schon mal ganz nett, so schlimm konnte es also gar nicht werden. Ich wollte mich gerade ans Auspacken machen, als ich feststellen musste, dass der Schrank bereits gefüllt war.

Probehalber zog ich einen Pullover aus dem Schrank und hielt ihn mir vor die Brust. Ohne Zweifel gehörte das hier einem Jungen. Einem großen Jungen, da mir der Pullover mir fast bis zum Oberschenkel reichte. War das hier etwa Jasons Zimmer?

Obwohl ich ihn ja nicht kannte, war alles hier unglaublich aufgeräumt und deshalb konnte ich mir fast nicht vorstellen, dass die Unordnung im Eingangsbereich seine Schuld war. Oder dieser Typ hatte einfach gar keine Sachen, die er in Unordnung bringen konnte. So wie es hier aussah, war er vermutlich vor kurzem ausgezogen.

Aber wieso sagte Sahra, das hier sei mein Zimmer, wenn es doch eigentlich ihrem Sohn gehörte? Ich hielt immer noch den Pullover in den Händen und sog gedankenverloren den Geruch ein. „Cora!", schrie jemand hinter mir laut und warf mich bei dem Versuch, mich zu umarmen, um.

Ein zierliches Mädchen schloss mich begeistert in die Arme, ehe ich wusste, was überhaupt geschah. „Ich habe so lange darauf gewartet, dass du endlich hierher kommst! Wir können so viel machen! Ich werde dir den Ort zeigen und natürlich die Stadt. Die ganzen süßen Jungs, die es hier leider nur vereinzelt gibt, werde ich dir selbstverständlich auch nicht vorenthalten! Wir werden uns schminken und die Haare machen. Klamotten können wir uns gegenseitig auch ausleihen. Au, ich freu mich so!"

Nachdem ihr Redeschwall so abrupt abbrach, wie er begonnen hatte, hatte ich zum ersten Mal die Gelegenheit, sie eingehend zu mustern. Sie hatte hellbraune Haare, die weich über ihre Schultern fielen und bis zu ihrer Hüfte reichten. Ihre braunen Augen strahlten übermütig und sie hatte ein freundliches Lächeln.

„Du musst Zoey sein", stellte ich äußerst geistreich fest. Ihre kindlichen Züge verformten sich zu einem Ausdruck, den ich nicht wirklich deuten konnte. Ihr Blick heftete an dem Pulli, den ich immer noch in den Händen hielt.

„Lass lieber die Finger von seinen Sachen. Er kann es nicht leiden, wenn man darin herumwühlt und außerdem ist er sowieso schon total sauer, weil er sein Zimmer dir überlassen musste." Sie rollte mit den Augen, es wäre das alles eigentlich total unwichtig. Ich kam nicht mehr ganz hinterher und fragte mich nur, was das jetzt heißen sollte.

Dass es jemandem nicht gefiel, wenn man in seinen Sachen wühlte, konnte ich ja noch verstehen. Davon wäre ich ja selbst nicht begeistert. Aber was sollte das mit dem Zimmerüberlassen heißen? „Wieso musste?", fragte ich mit unverhohlener Neugier.

Andererseits hörte ich mich sicherlich ganz schön ratlos und unwissend an. Hoffentlich dachte sie jetzt nicht, ich sei ein Dummchen. Zoey zögerte einen Moment: „Naja, Mum hat ihn dazu gezwungen, sein Zimmer für dich zu räumen. Er lebt jetzt ein Jahr lang bei unserer Großmutter und ist dementsprechend weniger gut auf dich zu sprechen. An sich ist Nonna zwar total nett, aber über längere Zeit ist sie unerträglich! Das weiß ich aus eigener Erfahrung, immerhin waren unsere Eltern früher viel unterwegs und Jason vertrauten sie mich nicht an."

Irgendwie hatte ich so das Gefühl, dass Jason wirklich wenig zugetraut wurde. „Aber ich hätte doch auch auf dem Sofa geschlafen. Ich will niemanden aus diesem Haus verdrängen und jetzt hab ich das anscheinend schon."

Die Vorstellung, dass mich jemand hasste, ohne mich zu kennen war weniger erfreulich. Einen Vorwurf konnte ich ihm nämlich auch nicht machen, weil ich selber nicht begeistert davon wäre, aus meinem Zimmer verdrängt zu werden. Noch dazu von einer völlig fremden Person!

„Mach dir doch keine Vorwürfe! Ich bin dir zum Beispiel echt dankbar dafür, dass sie ihn rausgeschmissen haben. Jason ist ein schrecklicher Nervbold, ich kann dich nur vor ihm warnen! Mir geht er schon seit geschlagenen 16 Jahren auf die Nerven und dieses eine Jahr kann dann ja nur Entspannung pur sein!"

Zoey schien gar nicht zu merken, dass ich ein wenig verschüchtert von ihrer Rede war. Am Anfang dauerte es immer ein bisschen, bis ich mit jemanden offen reden konnte, weil ich mich erst an den für mich unbekannten Charakter gewöhnen musste.

„Natürlich, er ist mein Bruder und so, aber das macht ihn nicht weniger nervig!" Endlich ließ sie von mir ab, indem sie von mir aufstand. Jetzt könnte ich sie von oben bis unten betrachten, machte es aber nicht, weil ich zu schüchtern war.

Zoey allerdings musterte mich völlig ungeniert und dabei wurde ich rot und nicht sie, was ich wirklich gemein fand. Ich wurde viel zu schnell rot, bei praktisch jeder Kleinigkeit. „Ach, ich find es einfach so toll, dich endlich kennenzulernen!", quiekte sie, bevor sie mich erneut stürmisch umarmte.

Wovon ich zu wenig hatte, schien sie zu viel zu haben. „Ich mich auch", murmelte ich völlig überrumpelt, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. „Soll ich dir das Haus zeigen?" Sie wirkte so begeister von der Idee, dass ich schlicht nicht Nein sagen konnte.

Deshalb nickte ich, obwohl ich wohl eher fragend dreinblickte, als zustimmend. „Wir fangen am besten unten an und arbeiten uns dann nach oben." Das hörte sich doch mal nach einem Plan an! Immer noch völlig begeistert griff Zoey nach meiner Hand und schleifte mich nach unten.

Im Eingangsbereich blieben wir stehen und sie grinste mich breit an. „Da unten ist der Keller. Die blöde Tür geht von innen nicht auf, also pass ein bisschen auf, sonst bist du darin eingesperrt. Jason hat es echt mal geschafft, stundenlang da drin festzusitzen!"

Die Brünette deutete auf eine Tür, die ebenfalls aus dem Eingangsbereich abzweigte. Nach ihrer Erklärung hatte ich allerdings weniger Lust, den Keller zu erkunden, also gingen wir weiter. Das musste echt schrecklich sein, in einem Keller festzusitzen und niemanden, mit dem man reden konnte, oder der einen retten würde!.

Von diesem Raum würde ich mich von nun an tunlichst fernhalten! Das Wohnzimmer kannte ich ja schon, dennoch erklärte sie mir noch etwas mehr darüber, als ich bereits beobachtet hatte: „Das hier ist das Wohnzimmer meiner Eltern. Grundsätzlich haben sie nichts dagegen, wenn man hier fern sieht, aber sie schauen nur das, was sie wollen. Dad legt viel Wert darauf, dass er zumindest abends mal das Sagen hat."

Sie kicherte leise, während sie die Kissen zu Recht rückte, die ich vor nicht allzu langer Zeit noch in Unordnung gebracht hatte. Die Decke hatte ich ja schon weggeräumt und ich traute mich nicht, sie danach zu fragen, wer mich damit bedeckt haben könnte.

Far awayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt